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Baseball: Warum die MLB Shohei Ohtani zu Füßen liegt

Der beste Spieler in der 154-jährigen Baseball-Historie?

Das 500-Millionen-Dollar-Einhorn: Warum die MLB Shohei Ohtani zu Füßen liegt

Star in Doppelfunktion: Shohei Ohtani ist sowohl als Pitcher als auch als Hitter für jeden Gegner brandgefährlich.

Star in Doppelfunktion: Shohei Ohtani ist sowohl als Pitcher als auch als Hitter für jeden Gegner brandgefährlich. Getty Images

Ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich einmal vor, Patrick Mahomes wirft seinen nächsten Touchdown-Pass, klatscht mit den Teamkollegen ab, trottet Richtung Seitenlinie, legt seinen Helm ab, sieht den Extra-Point durch die gelben Goalposts segeln - alles wie immer. Nun aber schnappt sich der Quarterback der Kansas City Chiefs direkt wieder seinen Helm, trottet aufs Feld zurück, stellt sich mit der Defense auf und bringt im nächsten Spielzug den gegnerischen QB per Sack zu Boden. Da ist sie hin, die Normalität.

Zumindest in der NFL. In der Major League Baseball aber bekommen die Fans solch ein Phänomen seit mittlerweile einigen Jahren geboten. Natürlich hinkt der Vergleich zwischen Football und dem Sport mit dem viel kleineren, dafür runden Ball, der meist mit über 150 km/h auf den Schlagmann zufliegt und von diesem möglichst aus dem Stadion gehämmert werden muss.

Die Vorstellung von Mahomes als genialer Offensiv- und Defensivspieler in einer Person vermittelt aber ein grobes Bild von dem, was in der MLB gerade passiert. Von dem, was Shohei Ohtani auszeichnet - den besten Baseball-Spieler der Welt. Mehr noch: vermutlich den besten Spieler der Geschichte.

Ein Tag für die Geschichtsbücher - mal wieder

Bei fast allem, was der 29 Jahre alte Japaner aktuell anfasst, schwingt das Wörtchen "historisch" mit. Ein gutes Beispiel lieferte er am vergangenen Donnerstag. Was Ohtani besonders macht: Er ist sowohl Pitcher als auch Batter und in beiden Rollen ein Star für sich.

Als die Los Angeles Angels in der Vorwoche zu einem Doubleheader in Detroit antraten, quasi ein Doppelspieltag mit zwei Duellen gegen die Detroit Tigers am selben Tag, zeigte Ohtani im ersten Spiel seine bislang beste Leistung als Pitcher in der MLB. Zum ersten Mal stand er über die kompletten neun Innings des Spiels auf dem Wurfhügel - mittlerweile ein im Baseball selten gewordenes Kunststück -, ließ keinen einzigen gegnerischen Run zu und markierte acht Strikeouts.

Um 15:26 Uhr Ortszeit verließ er nach gut zwei Stunden Arbeit mit einem 6:0-Sieg im Rücken den Platz - genau 79 Minuten später machte Ohtani den Tigers im zweiten Spiel wieder zu schaffen, dieses Mal als Schlagmann und mit seinem 37. Home Run der Saison. Um 17:35 Uhr folgte Home Run Nummer 38, kurz darauf war der 11:4-Sieg in trockenen Tüchern, der neunte Erfolg aus elf Angels-Spielen.

"Niemand will gegen ihn antreten müssen"

Natürlich war diese Leistung Ohtanis in einem Doubleheader einzigartig in der Historie der MLB. Wie so vieles, was er macht. Ende Juni fragte ESPN, ob der Japaner soeben den besten Monat der 154-jährigen Geschichte des professionellen Baseballs hingelegt habe. Die Antwort, nachdem Journalist Jeff Passan die Statistikbücher gewälzt hatte: ja.

Ohtani wird oft mit Babe Ruth verglichen - Baseball-Legende, für manche der GOAT (Greatest Of All Time) und einer der ersten Spieler, die in die Hall of Fame gewählt wurden -, der ebenfalls in seiner Ära Anfang des 20. Jahrhunderts als sogenannter Two-Way-Player dominierte. Allerdings war er nur in den ersten sechs Jahren seiner Karriere auch regelmäßig als Pitcher aktiv, ab 1920 konzentrierte er sich auf seine Laufbahn als Hitter.

Er ist ein Einhorn in diesem Sport.

Mark DeRosa

Gut 100 Jahre später gibt es in Person von Ohtani erstmals wieder einen ähnlichen Dominator an beiden Enden des Baseball-Spektrums. Nur eben noch besser. 2021 avancierte er zum ersten Spieler der MLB-Geschichte, der sowohl als Pitcher als auch als Hitter zum All-Star gewählt wurde, was er in den Folgejahren natürlich direkt wiederholte. "Niemand will gegen ihn antreten müssen", fasste es Mike Trout zusammen, selbst einer der Besten seiner Zunft.

Aktuell führt er die MLB mit mittlerweile 39 Home Runs an. Gleichzeitig hält der rechtshändige Pitcher seine Gegner bei der geringsten Batting Average der Liga mit 18,5 Prozent Trefferquote, der Durchschnitt liegt bei 24,8 Prozent - und Ohtani kommt als Hitter auf 30,4 Prozent. In dem von Statistiken durchleuchteten Sport liegt er in vielen weiteren Advanced Stats vorne - sowohl als Hitter als auch als Pitcher.

Verzögerter Wechsel in die USA: Ein Segen für Ohtani

Um es kurz zu fassen: Laut dem "Baseball Almanac" haben seit der Gründung der National League im Jahr 1876 20.451 Aktive ihren Fuß in die Major Leagues gesetzt, einen wie Ohtani gab es aber noch nie. "Er ist ein Einhorn in diesem Sport", meinte im März Mark DeRosa, der Trainer des US-amerikanischen Nationalteams, nachdem es auf Japan und Ohtani getroffen war.

Zwar starten viele Baseballspieler ihre Karriere in jungen Jahren in der von Ohtani perfektionierten Doppelfunktion, auf dem langen Weg in die "Big Leagues" kommt es normalerweise jedoch zu einer Spezialisierung auf einen der beiden, jeweils hochkomplexen und sehr unterschiedlichen Teilbereiche des Sports.

Dem Sohn eines unterklassigen Baseballers und einer talentierten Badminton-Spielerin hätte wohl das gleiche Schicksal geblüht, wenn er schon früh seine japanische Heimat in Richtung USA verlassen hätte. Schon mit 17 sorgte er als Pitcher für Aufsehen, als einer seiner Fastballs mit 160 km/h gemessen wurde - damals ein Rekord für einen japanischen High Schooler.

Shohei Ohtani

Verlässt er die Los Angeles Angels im Winter oder nicht? In jedem Fall wartet ein Rekordvertrag auf Shohei Ohtani. Getty Images

Knapp ein Jahr später stand Ohtani vor einem Wechsel in die USA, bevor die Hokkaido Nippon-Ham Fighters ihn überzeugten, doch in Japan ins Profi-Geschäft einzusteigen. Zwei Gründe sollen ihn umgestimmt haben: Einerseits der Ausblick auf das unglamouröse Leben in den amerikanischen Minor Leagues, durch die sich das Talent zunächst hätte kämpfen müssen. Andererseits die Aussicht, bei den Ham Fights sowohl werfen als auch schlagen zu dürfen. In den USA hätten die Coaches ihn wohl zu einer Entscheidung gedrängt.

Der Samurai mit zwei Schwertern

So aber blieb er für weitere fünf Spielzeiten in Japan, erhielt den Spitznamen "Samurai mit zwei Schwertern" und avancierte 2017 zum großen Hauptpreis aller 30 MLB-Teams, als er endgültig seinen Schritt in die USA ankündigte. Den Zuschlag erhielten die Angels.

Seither hat er auch seine letzten Kritiker, die meinten, seine Two-Way-Qualitäten seien nicht aufs allerhöchste Niveau übertragbar, Lügen gestraft. Dreimal wurde er zum All-Star gewählt, Verletzungen zu Beginn seiner MLB-Karriere verhinderten wohl noch mehr Auszeichnungen.

Dafür kamen andere hinzu: 2021 wurde er einstimmig zum wertvollsten Spieler gewählt, ein Jahr später landete er bei der MVP-Wahl auf Rang zwei - nur, weil Aaron Judge gleichzeitig den Home-Run-Rekord in der American League knackte. Nach etwas mehr als der Hälfte der aktuellen Saison gilt er wieder als Favorit im MVP-Rennen, er spielt noch besser als in den Vorjahren.

Im März schnappte er sich mit der Nationalmannschaft zudem den Weltmeistertitel gegen das favorisierte, mit Stars gespickte Team der US-Amerikaner. Ohtani sorgte für das letzte Out des Spiels, ausgerechnet gegen seinen Angels-Teamkollegen Trout.

Katastrophale Bilanz für die Angels - selbst mit Ohtani

Jener Trout hatte vor Ohtani jahrelang die Krone des besten Baseballspielers der Welt getragen, seit 2018 laufen beide gemeinsam für die Angels auf. Zwei der absoluten Topstars im selben Team sollte Championships garantieren, sollte man meinen. Dem ist aber nicht so.

2014 stand das in Anaheim vor den Toren L.A.s beheimatete Team zuletzt überhaupt mal in den Play-offs. In den neun Jahren seither haben die Angels nur in einer Saison mehr Spiele gewonnen als verloren - eine schauerliche Bilanz.

Ein Grund: Teambesitzer Arte Moreno gehört eher zur geizigen Sorte, sein Team ist keine Gelddruckmaschine wie die Dodgers, der Stadtrivale, oder die New York Yankees. Im März machten Berichte die Runde, dass die Angels ihre Radioreporter die Spiele sogar von zuhause aus kommentieren lassen, um die Kosten der Vor-Ort-Berichterstattung einzusparen. Entsprechend wenig im ligaweiten Vergleich investiert Moreno auch in das Team auf dem Platz. Und entsprechend bleiben die Erfolge aus. Selbst zwei Superstars reichen in einem Sport wie Baseball nicht aus, wenn dahinter die Qualität fehlt.

Verpassen der Play-offs womöglich das geringere Übel

In der aktuellen Spielzeit haben die Angels die Play-off-Hoffnungen immerhin noch nicht begraben, auch wenn erneut eine Saison ohne Oktober-Baseball droht. Das Team steht bei 56 Siegen und 52 Niederlagen und damit auf Platz drei von fünf Teams in der American League West. Am ehesten ist noch ein Sprung auf die Wildcard-Plätze realistisch, wobei die Angels dafür noch zwei Teams überholen müssten. Das Statistik-Portal "FanGraphs" gibt ihnen eine 15-prozentige Chance, die Play-offs wirklich zu erreichen.

Das Verpassen der Postseason könnte sich letztlich nur als geringeres Übel herausstellen, wenn im Winter die Free Agency von Ohtani ansteht. Der Vertrag des 29-Jährigen läuft nach dieser Spielzeit aus, es wird ein Wettbieten in noch nie dagewesenen Dimensionen erwartet.

600 Millionen Dollar schwer - und doch ein Schnäppchen?

Liga-Insider gehen davon aus, dass er einen Vertrag in Höhe von mindestens 500 Millionen Dollar mit einer Laufzeit von um die zehn Jahre unterschreiben wird. Das ist die Untergrenze wohlgemerkt. Manche erwarten auch einen Gesamtwert des neuen Arbeitspapiers um die 600 Millionen Dollar. Zum Vergleich: Mahomes erhielt von den Chiefs einen Zehnjahresvertrag über 450 Millionen Dollar, in der MLB gehört der bisherige Rekord Trout (zwölf Jahre, 426,5 Millionen Dollar). Unter den Sportstars haben nur Lionel Messi und Cristiano Ronaldo Berichten zufolge jemals zu einem höheren Salär unterschrieben.

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Vor allem die Dodgers und Yankees - und alle anderen 28 Teams - bringen sich bereits in Stellung, um Ohtani mit diesen fast schon irren Summen abzuwerben. Dennoch ist Ohtani selbst mit einem solchen Vertrag nach Meinung von ESPN-Journalist Passan noch ein "Schnäppchen" - bezogen einerseits auf seinen sportlichen Wert, andererseits auf die Einnahmen im Bereich Ticketing, Sponsoring und Merchandising, die der Japaner einbringt.

Wo Ohtani selbst seine Zukunft sieht, da lässt er sich nicht in die Karten blicken. Die Angels hoffen, ihn mit einer starken zweiten Saisonhälfte und womöglich einem Play-off-Run von einem Verbleib überzeugen zu können. Gerüchte um einen Trade kurz vor der Trade Deadline am 1. August dementierten die Verantwortlichen - stattdessen investierten sie selbst in neue Spieler, um Löcher im Kader, zum Beispiel beim Pitching neben Ohtani, zu stopfen.

All-in für die Play-off-Jagd

Der Preis für die beiden Rechtshänder Lucas Giolito (Starter) und Reynaldo Lopez (Reliever) von den Chicago White Sox, waren zwei der besten eigenen Talente aus dem Farmteam. Das Risiko für die Zukunft ist beträchtlich. Beide Neuzugänge sind nach der Saison ebenfalls Free Agents, sie könnten im schlimmsten Fall genau wie Ohtani direkt wieder abwandern.

Immerhin signalisierte General Manager Perry Minasian seinen beiden Superstars Ohtani und Trout, der wegen eines gebrochenen Handgelenks aktuell fehlt und erst im August zurückerwartet wird, dass die Angels All-in gehen, vor der Deadline folgten noch mehrere weitere Trades. Offenbar zur Freude Ohtanis.

"Von Anfang an war mein Plan, meine Saison mit den Angels zu beenden", ließ der Japaner vergangene Woche über seinen Übersetzer verlauten. "Die ganzen Trade-Spekulationen sind jetzt erstmal weg. Ich kann mich darauf fokussieren, das Team in die Play-offs zu führen."

Was dann im Winter passiert, ist gleichzusetzen mit einer der wichtigsten Entscheidungen der Baseball-Geschichte. Egal wie sie aussieht, sie wird historisch werden. Wie fast alles, was Shohei Ohtani aktuell macht.

Philipp Jakob