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Abwehrreihen aushebeln, Weinkorken ziehen: "Andrea Pirlo weiß mehr"

Haucht der neue Mann Juventus frisches Leben ein?

Abwehrreihen aushebeln, Weinkorken ziehen: "Pirlo weiß mehr als die meisten anderen"

Vom Zauber mit dem Ball am Fuß über Wein hin auf die Trainerbank: Andrea Pirlo leitet ab sofort Juventus Turin.

Vom Zauber mit dem Ball am Fuß über Wein hin auf die Trainerbank: Andrea Pirlo leitet ab sofort Juventus Turin. imago images

Auf den ersten Blick wirkt es schon skurril, andererseits kann ein Optimist auch durchaus sagen: Warum eigentlich nicht?

Mut bringt Juventus Turin, der mit 35 Titeln italienische Rekordmeister (zuletzt neun (!) Scudetto in Folge), in jedem Fall auf. Warum? Weil die Alte Dame am Samstag nach dem Champions-League-Aus gegen Lyon (2:1) genug von Maurizio Sarri gehabt, diesen nach nur einer Saison im Amt entlassen und zur Überraschung vieler direkt Andrea Pirlo präsentiert hat.

Jahrelanges Idol im italienischen Fußball

Klar, Pirlo hat einen großen Namen, ist Weltmeister von 2006, hat Deutschlands Abwehr im dramatischen WM-Halbfinale zu Dortmund bestraft, ist fest verankert in vielen italienischen und weltweiten Fußballherzen, Milan-Legende, Juve-Ikone, Freistoßkünstler, Schnittstellenpassmeister, Spielversteher - und ja, auch modewusst wie weinaffin. Richtig gelesen: Pirlo kennt sich aus mit Wein, hat sich nach seinem Karriereende erst aufs eigene Gut zurückgezogen und dort die Weintrauben beim Reifen beobachtet.

Damals ist sein eines Abenteuer als jahrelanger Mittelfeld-Star mit dem unverwechselbaren trabenden Gang und der unverwechselbaren, noch immer existenten langen Haarpracht zu Ende gegangen, ehe er sich zwischen all den Weinreben auf sein neues, jetziges vorbereitet hat.

Man stelle sich jetzt einfach mal vor, man sei selbst junger, aufstrebender Fußballer oder auch gestandener Profi: Tipps von einem Mann wie Pirlo würde man sich sicherlich gern anhören.

Pirlo, der "Juve-Auserwählte"

Warum also eigentlich nicht? Warum soll Pirlo als neuer Juve-Trainer nicht überzeugen, durchstarten - und über Jahre die Turiner Mannschaft auf ein neues Level heben, um im besten Fall nach 1984/85 und 1995/96 endlich mal den seit vielen Jahren herbeigesehnten dritten Triumph in der Königsklasse zu realisieren? Und das Ganze trotz seines durchaus größten kritischen Punkts - der da wäre: Pirlo hat selbst noch nie offiziell als Trainer gearbeitet, hätte eigentlich erst bei Juve die hauseigene U 23 übernehmen und sich dort entwickeln sollen. Ein ähnlicher Weg also wie Zinedine Zidane bei Real, nur jetzt eben plötzlich ohne die kleine Abkürzung durch den Unterbau des Vereins.

Andrea Pirlo ist als Spieler von Juve verabschiedet worden - und nun als Trainer der Alten Dame zurückgekehrt.

Hat 2015 seine europäische Karriere bei Juve beendet - und ist nun nach seiner finalen Station beim New York City FC (2015-2017) und einer Pause plus Weingut-Pflege zurückgekehrt: Andrea Pirlo. imago images

Die Bianconeri hoffen durch diesen - natürlich auch mit Risiko behafteten - Schachzug, dass der ehemalige Spielmacher auch als Trainer "ein Auserwählter sein kann, so wie er es als Fußballer war", sagt Turins Manager Fabio Paratici.

"Maestro" Pirlo, der einen Vertrag über zwei Jahre bis 2022 unterschrieben hat, muss in Zukunft auf jeden Fall Druck aushalten und im schwierigen wie stets unter dem Brennglas stehenden Turiner Umfeld zeigen, dass er ein Team auch von der Seitenlinie zur Weltklasse treiben kann. Er, der fortan im schicken Zwirn an der Seitenlinie erblickt wird, kann abseits bekannter Schlagzeilen seines Lebens noch mehr folgen lassen.

Pirlo und CR7 größer als Sarri und CR7?

Ein möglicher Schlüssel dafür: Pirlo dürfte auf Juve-Star Cristiano Ronaldo bauen. Dieser ist im Verlauf der abgelaufenen Saison trotz herausragender Werte (allein 35 Tore samt sieben Vorlagen in 44 Pflichtspielen 2019/20 sowie alle CL-Tore für die Alte Dame in der K.-o.-Runde der letzten beiden Spielzeiten) Berichten zufolge immer wieder mit Ex-Trainer Sarri "aneinandergeraten" - und soll jüngst sogar mit einem Weggang nach zwei Jahren geliebäugelt haben. Nun, dank Sarris Rauswurf und Pirlos Installation, sei CR7 aber fest entschlossen, es mit Juventus weiter zu versuchen. Die Fans würden das erwarten, schreibt er selbst bei Instagram. "Und wir müssen liefern." Die Gleichung könnte lauten: Pirlo und CR7 ist größer, wertvoller, eingestimmter als Sarri und CR7.

"Diese Wahl ist ein Wagnis, daran besteht kein Zweifel - sowohl für Andrea als auch für Juve", meint sein früherer Teamkollege Alessandro Costacurta. "Das ist natürlich eine große Überraschung, aber ihm wird Großes gelingen", prognostiziert Alessandro Del Piero, wie Pirlo Weltmeister von 2006. "Er hat alle Fähigkeiten, es sogar noch besser zu machen als Zinedine Zidane." Das wird zugegebenermaßen nicht leicht, schließlich hat der frühere Juve-, Real- und Frankreich-Star "Zizou" als A-Trainer in Madrid direkt in seinen ersten drei Jahren dreimal die Champions League gewonnen.

Gattuso zu Pirlo: "Du wirst wenig schlafen"

Napoli-Coach Gennaro Gattuso hat seinen ehemaligen Nebenmann bei Milan und in der Squadra Azzurra auf alle Fälle schon einmal vorgewarnt. Jetzt habe er den Salat, so der SSC-Trainer am Sonntag bei "Sky". "Der Job ist schwierig. Es reicht nicht, eine große Karriere hingelegt zu haben. Du musst lernen und schuften, du wirst wenig schlafen."

Gianluigi Buffon und Andrea Pirlo sind erneut vereint bei Juventus.

Schützling und Trainer: Gianluigi Buffon (42) und Andrea Pirlo (41) arbeiten wieder zusammen bei Juventus Turin. imago images

Die Mehrheit aber scheint entzückt zu sein von den neuesten Nachrichten aus Turin, Zweifel werden vorerst ausgeblendet - so wie bei "Tuttosport" zum Beispiel: "Jede Entscheidung ist mit Risiken verbunden, jede kann auch eine Wette sein. Und diese ist zudem noch faszinierend und hat einen Duft von Zukunft." Der Präsident der italienischen Trainervereinigung, Renzo Ulivieri, schlägt auf "calciomercato.com" in dieselbe Kerbe: "Pirlo hat noch keine Trainerlizenz, aber er hat die vorläufige Erlaubnis, weil er den letzten Kurs besucht hat. Er wird seine Abschlussarbeit im Oktober einreichen und dann offiziell Trainer werden. Ich kann außerdem zuversichtlich sagen, dass Pirlo derzeit einer der tiefsten Denker im Weltfußball ist. Er weiß mehr über das Spiel als die meisten Trainer, die seit Jahren arbeiten. Er ist fleißig, hat sich wirklich mit dem Thema befasst und ist bereit."

Pirlo selbst sieht sich für diesen Job ebenfalls gewappnet, wie er via Twitter klarstellt: "Ich bin hocherfreut und geehrt, solch einen Respekt und solch ein Vertrauen von Juventus zu erfahren. Ich bin bereit für diese großartige Möglichkeit."

Oder in anderen Worten: Warum denn eigentlich auch nicht?

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