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Die Gründe für die Krise bei Liverpool und Jürgen Klopp

Klopp muss die Krise meistern

Vier Gründe für Liverpools Talfahrt

Aktuell wenig Grund zur Freude: Mohamed Salah, Jürgen Klopp und Thiago.

Aktuell wenig Grund zur Freude: Mohamed Salah, Jürgen Klopp und Thiago. imago images (3)

Und jetzt wieder Manchester United! Normalerweise brennt Jürgen Klopp auf diese Duelle. Nicht speziell mit den Red Devils, aber darauf, sich mit den Besten messen zu dürfen. Doch am Sonntag kommt das FA-Cup-Viertrunden-Match im Old Trafford für seinen FC Liverpool zur Unzeit. Denn es stürzt den deutschen Teammanager in eine Glaubensfrage: Soll er seine bestmögliche, aber derzeit müde und zweifelnde Elf bringen, um die Chance zu wahren, den ewigen Erzrivalen im erklärtermaßen nebensächlichen Wettbewerb zu schlagen? Was nur im Erfolgsfalle, dann aber eine wirkliche Aufbaumaßnahme wäre?

Oder soll er nach dem 0:1 gegen Burnley angesichts von nun fünf sieglosen Ligapartien, die letzten vier davon ohne Treffer, buchstäblich alle Kräfte auf die Meisterschaft ausrichten? Zumal da am Donnerstag in London mit Tottenham Hotspur ein Konkurrent mindestens im Kampf um die Champions-League-Plätze wartet? Jene Spurs also, gegen die am 16. Dezember mit dem Last-Minute-Sieg (2:1) das "alte" Liverpool zu erleben war, ehe es zu einem 7:0-Kantersieg bei Crystal Palace spazierte und schließlich doch zu schwächeln begann.

Klopp meinte, angesichts der jüngsten Krise müsse er über die Tabelle oder das Titelrennen gar nicht nachdenken. Insgeheim wird er natürlich sehr wohl darüber grübeln. Die Talfahrt des einstigen Spitzenreiters, der nun auf Rang 4 angekommen ist, habe er, so Klopp, zu verantworten. Ist das wirklich so?

Auf den ersten Blick ist Klopps Selbstkritik berechtigt

Auf den ersten Blick ist seine Selbstkritik berechtigt. Und auf den zweiten? Unternimmt er das, was er meistens macht: sich vor die Mannschaft stellen. Das Band, das er jetzt in der Not zwischen sich und dem Team strafft, ist die Basis für die guten Zeiten, in denen "the boys", wie er sie nennt, für ihn durchs Feuer gehen.

Aber zu betrachten ist das Bild abseits der emotionalen Ebene: Ein Gradmesser für die Qualität eines Trainers ist auch, wie viele und auf welche Weise sich sein Team Torchancen erspielt. Nicht nur gegen Burnley, auch in den enttäuschenden Partien davor, mangelte es nicht an der Zahl. 87 erfolglose Versuche gab es, seit die Reds den Ball in der Liga das bisher letzte Mal im Netz untergebracht hatten. Das war noch 2020 und führte doch nur zu einem 1:1 gegen West Bromwich Albion, in Anfield.

Dass die Reds nun mal überspielt sind, ist menschlich

87 Versuche also, allein 27 gegen Burnley. Was sagt das aus? Erstens: Die Mannschaft ist nicht in den Beinen müde. Wer immer wieder anrennt, es probiert, ist konditionell auf der Höhe. Alles andere spräche auch nicht für die Fitnessabteilung, schließlich gehörte Liverpool nicht zu den 16 Mannschaften Europas, die im August noch Finalturniere um die internationalen Trophäen bestritten.

Zweitens: Ist sie also nicht in den Beinen müde, so ist sie es im Kopf. Leer, mental überspielt. Was menschlich ist. Zwei grandiose Jahre wie im Rausch, gekürt mit Henkelpott und der endlich befriedigten Obsession, nach 30 Jahren wieder mal Meister in England zu werden, gehen nicht spurlos an einem Team und jedem Einzelnen vorbei. Wenn Klopp von "falschen Entscheidungen" spricht, die Antreiber wie Angreifer im Spiel nach vorn treffen, legt das die mentalen Mangelerscheinungen offen.

Drittens: Liverpool ist gerade nicht Liverpool. Die vielen Chancen, so mannigfaltig sie auch sein mögen, entstehen gegen Teams wie West Brom und Burnley fast ausschließlich aus fast ununterbrochenem Ballbesitz. Gegen mauernde Teams sind noch mehr Lösungen gefragt, wenn die lieber ins Pressing gehende Offensive der Reds aufgrund fehlender Tiefe wenig bis gar kein Tempo ins Spiel bekommt. Den Pässen fehlen schon aus dem Halbfeld heraus Schnelligkeit, Schärfe, Präzision.

So schlecht wie gerade lief es für Klopp zuletzt vor über 15 Jahren

Zahlen lügen bekanntlich nicht, diese hier lesen sich wie Fakten des Grauens, gemessen an Liverpools Ansprüchen und Selbstverständnis: Vier Ligaspiele ohne Tor fabrizierte der Klub zuletzt im Mai 2000, Klopp widerfuhr dies in Mainz vor mehr als 15 Jahren. Seit 439 Minuten wartet Liverpool derzeit auf einen Treffer, so lange wie kein anderer Ligarivale. Fünf sieglose Spiele in Serie verbuchten die Reds unter Klopp noch nie auf der Minus-Seite. Am Donnerstag ereilte Liverpool zudem die erste Heimniederlage seit fast vier Jahren - nach 68 Partien in Anfield ohne Niederlage. Chelseas Serie von 86 ungeschlagenen Partien daheim (2004 bis 2008) - unerreicht!

Viertens: Bleibt das Personal. Einige Himmelsstürmer der jüngsten Spielzeiten sind in diesen Tagen Schatten ihrer selbst, besonders bei Trent Alexander-Arnold auf der rechten Außenbahn fällt das ins Gewicht. Der Dreizack in vorderster Linie mit Sadio Mané, Roberto Firmino und Mohamed Salah ist aus unterschiedlichen Gründen stumpf. Doch Klopp durfte sich nach der Pleite gegen Burnley darin bestätigt fühlen, warum er gerade diesem Trio so selten eine Pause gönnt. Weder Divock Origi noch Xherdan Shaqiri noch Alexander Oxlade-Chamberlain sind in der Lage, sie adäquat zu ersetzen. Das vermochte Diogo Jota, doch der erfrischend aufspielende Neuzugang von den Wolverhampton Wanderers verletzte sich Anfang Dezember. Und so zwickt Liverpools zweiter Anzug gewaltig. Das ist Größe M, angebracht wären L oder gar XL.

Abwehrboss Virgil van Dijk

Folgenreicher Ausfall: Abwehrboss Virgil van Dijk wurde in Everton am Kreuzband verletzt. imago images

Es wird also buchstäblich eng. Und das gar nicht mal so sehr in der Abwehr. Nach dem Ausfall Virgil van Dijks, Joe Gomez' und phasenweise Joel Matips, sah man schon den Himmel über Anfield einstürzen. Doch das ist bei 22 Gegentoren nicht das primäre Problem. Was für eine gute, zumindest ordentliche defensive Ordnung spricht. Sorgen bereiten eher die nur 37 Tore, "nur" für Liverpooler Verhältnisse. Und drei Niederlagen, wie jetzt nach der Hinrunde, addierten die Reds 2019/20 am Saisonende, zwei davon waren bedeutungslos.

Abwehrriese van Dijk fehlt als Persönlichkeit, als Leader, als Aufräumer, bei Offensiv-Eckbällen - besonders schmerzlich aber wird der Niederländer auch in der Spieleröffnung vermisst. Sichere Initialzündungen wie er vermag etwa ein Nathanial Phillips "von hinten raus" nicht zu spielen. Ohne Europas Fußballer des Jahres 2019, früh in dieser Saison im Derby gegen Everton auf den OP-Tisch gefoult, ist die Statik des Liverpooler Spielsystems nachhaltig gestört. Zumal da Fabinho und Kapitän Jordan Henderson im Mittelfeld fehlen, wenn sie die Lücken in der Innenverteidigung füllen müssen.

Thiago wird für Liverpool noch wichtig werden

Und Thiago, ebenso früh gegen Everton schwer verletzt und wie Diogo Jota hoffnungsfroh als sinnvolle Verstärkung gekommen? Der Ex-Münchner wird gerade kritisch beäugt. Zu Recht? Fakt ist: Er spielt unter seinen Möglichkeiten, doch grundsätzlich daran zu zweifeln, dass der Spanier in dieses Team passt, ist nicht richtig. Dieser Virtuose am Ball, dieser Vordenker, der Räume und Situationen erkennt, die andere nicht mal sehen, wenn sie da sind, verstärkt jede Mannschaft der Welt. Thiago ist keiner, der anrennt, der permanent presst, sondern er verleiht den Auftritten Liverpools, was zuweilen fehlte: Ideen, Kreativität, Esprit. Er wird noch wichtig werden.

Viel Zeit haben naturgemäß weder er, noch Klopp, noch Liverpool. Die Tabellenspitze ist sechs Punkte entfernt, die Gegner werden nicht leichter. Aber leicht kann jeder. Jetzt kann, jetzt muss Klopp zeigen, dass er auch in Liverpool Krise kann. In Mainz, sogar in Dortmund konnte er. Er sagt: "Wenn wir die Wand eingerissen haben, werden die Jungs wieder fliegen." Sie müssen nur aufpassen, bis dahin nicht zu oft davor zu rennen.

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