Bundesliga

Viele Parallelen zu van Gaal: Wie Tuchel den FC Bayern verändert

Zwei harte und schonungslose Trainer im Vergleich

Viele Parallelen zu van Gaal: Wie Tuchel den FC Bayern verändert

Der FC Bayern blickt auf eine prägende Zeit unter Louis van Gaal (li.) zurück, die Ära-Tuchel dauert noch an - doch schon jetzt gibt es einige Parallelen.

Der FC Bayern blickt auf eine prägende Zeit unter Louis van Gaal (li.) zurück, die Ära-Tuchel dauert noch an - doch schon jetzt gibt es einige Parallelen. imago (2)

Sie waren sehr erstaunt, die Münchner Bosse, damals, im Frühjahr 2009, als sie Louis van Gaal in Amsterdam besucht hatten und später im Flieger zurück nach München saßen. Der Trainer, der gerade mit AZ Alkmaar Meister wurde, hatte Eindruck hinterlassen. Kurz haben die Verantwortlichen überlegt, weil sie wussten: Es wird sich vieles ändern an der Säbener Straße, es wird ein ganz anderer Wind wehen. Ein für viele Beteiligte unangenehmer. Aber genau das brauchte der FC Bayern zu diesem Zeitpunkt. Weshalb sich die Führungs-Etage dann doch schnell einig war: Ja, van Gaal soll Bayern-Trainer werden.

Im Beisein des damaligen Präsidenten Uli Hoeneß, des Ex-Vorstandsbosses Karl-Heinz Rummenigge, des einstigen Sportdirektors Christian Nerlinger und des langjährigen Pressesprechers Markus Hörwick wird der Tulpengeneral im Sommer 2009 als neuer Trainer vorgestellt. Mit den Worten "selbstbewusst, arrogant, dominant, ehrlich, innovativ, aber auch warm und familiär" beschreibt sich van Gaal an diesem Tag selbst, "deswegen glaube ich, dass ich hierher passe. Die Kultur von Bayern München, das bayerische Lebensgefühl passt mir wie ein warmer Mantel."

Louis van Gaal

Mit Strenge und Konsequenz: Von 2009 bis 2011 krempelte Louis van Gaal (vorne) den deutschen Rekordmeister um.  imago sportfotodienst

Nach dem missglückten Experiment mit Jürgen Klinsmann waren Korrekturen notwendig. Im großen Stil. Eine Veränderung von Bayern München, ohne die Philosophie des Vereins infrage zu stellen. Van Gaal, da hofften die Entscheider, wird dabei helfen - mit seiner Erfahrung, mit seiner konsequenten Linie, die natürlich nicht überall auf Gegenliebe gestoßen ist. Aber rückblickend, sagen die Bosse heute, habe der Rekordmeister das vergangene Erfolgsjahrzehnt auch oder vor allem van Gaal zu verdanken. Weil er für neue Strukturen gesorgt hat, für ein unverkennbares Spielsystem, und mit disziplinarischen Maßnahmen zu mehr Professionalität im Klub beigetragen hat.

Er traf unpopuläre Entscheidungen, die zum damaligen Zeitpunkt kritisiert wurden, wie zum Beispiel das Zerwürfnis mit Luca Toni und Lucio oder die Degradierung von Mark van Bommel, die später nachvollziehbar erschienen. Die übereinstimmende Meinung: Van Gaal hat den FCB in seinen Grundwerten belassen, ihm aber eine neue fußballerische Identität verschafft.

Als Tuchel übernahm, machte ihn der Zustand der Mannschaft fassungslos

Heute befindet sich der Branchenführer in einer ähnlichen Situation. Das große, langfristige Vorhaben mit dem aktuellen Bundestrainer Julian Nagelsmann ist krachend gescheitert, die Übergabe der Vereinsführung an Oliver Kahn als Vorstandsvorsitzenden und Hasan Salihamidzic als Sportvorstand ebenso. Wieder einmal muss korrigiert werden. Wieder im großen Stil. Diesmal mit Trainer Thomas Tuchel, der ähnlich wie sein niederländischer Kollege einen eigenen Weg verfolgt. Weil er weiß, wie viel in den vergangenen Jahren versäumt und vergeigt wurde.

Interview

Er konnte kaum glauben, in welchem Zustand er diese Bayern-Mannschaft im Frühjahr übernommen hatte. Nach dem 1:3 in Mainz Mitte April soll seine Fassungslosigkeit lautstark aus ihm herausgebrochen sein. Völlig verzweifelt ob der Einstellung des Teams, der Verunsicherung im Spiel, der mangelnden Fitness und fehlenden mentalen Frische wusste Tuchel, dass diese Mannschaft umgekrempelt werden muss, eine neue Achse benötigt.

Hatte er sich in der abgelaufenen Saison mit seinen kritischen Äußerungen noch zurückgehalten, spricht er seit dem Trainingsstart für 2023/24 am 15. Juli auch unangenehme Wahrheiten gnadenlos offen an. Für manche Verantwortliche an der Säbener Straße ist dies zu viel des Guten - oder zu viel der Negativität, zu viel Gemecker. Da bewegt sich der Cheftrainer auf einem schmalen Grat, was auch daran liegt, dass solche Aussagen für den FC Bayern ungewohnt sind. Gerade nach den vergangenen drei Jahren, in denen jegliche Versäumnisse Woche für Woche, Monat für Monat dünnhäutig unter den Teppich gekehrt wurden. Tuchel zeigt diese Fehler jetzt auf. Seine Kritik richtet sich nicht an die aktuellen Chefs, nicht an die Aufsichtsratsmitglieder Hoeneß und Rummenigge, nicht an den neuen CEO Jan-Christian Dreesen, nicht an Präsident Herbert Hainer - sondern an die Entscheider der jüngeren Vergangenheit.

Beide Trainer sorgten für eine neue Ausrichtung

Wenig überraschend war und ist also, dass Tuchel - wie einst van Gaal - mächtig was verändert. Bei der Zusammenstellung des Kaders, bei der Disziplin und letztlich in puncto Hierarchie. Das mag für viele Spieler eine riesige Umstellung und gewiss nicht einfach sein, aber damit bricht Tuchel alte, eingefahrene Gewohnheiten auf. Dass er damit im Verein und mit seiner schonungslosen Ansprache bei so manchem Profis aneckt, ist ihm bewusst.

Uli Hoeneß, Louis van Gaal

Das Verhältnis zwischen Präsident Uli Hoeneß (li.) und Trainer Louis van Gaal war nicht immer einfach. imago sportfotodienst

Das war bei van Gaal nicht anders. Der Niederländer verdeutlichte schon ganz zu Beginn seiner knapp zweijährigen Amtszeit in der bayerischen Landeshauptstadt, dass er seine Meinung äußern und vehement vertreten würde. "Mia san mia", sagte er bei seinem Antritt mit dem nicht unwesentlichen Zusatz: "Und ich bin ich." Woraufhin Ehrenpräsident Hoeneß mehr als 14 Jahre später in der an diesem Freitag erscheinenden Amazon-Doku "Generation Wembley" mit einem Grinsen entgegnet, dass der Niederländer das, was er sage, auch tatsächlich glaube. Aber ja, so war es. Deshalb rumpelte es mehrmals zwischen ihm und van Gaal. Zwei Alphatiere, die mit zunehmender Zeit der Zusammenarbeit aneinanderrasselten. Inzwischen hat sich das Verhältnis wieder gebessert, die beiden haben sich längst ausgesprochen.

Auch Tuchel weiß, dass Hoeneß der mächtigste Mann im Verein ist. Nicht umsonst betonte der Chefcoach bei seinem Antritt wiederum, dass er für den Ehrenpräsidenten auf diesen Klub aufpassen und sein Bestes geben werde. Womöglich wird dies, wie bei van Gaal, auch erst in ein paar Jahren so richtig ersichtlich. Denn Tuchels Methodik dabei ist zweifelsohne diskutabel, sein Ansatz allerdings verständlich. Schließlich weiß er um das politische Bemühen einiger Spieler, ebenso um egoistische Absichten (davon sind auch leitende Positionen betroffen), die dem Verein keinesfalls dienen. Was seine Aufgabe nicht leichter macht und Durchsetzungsvermögen erfordert. Da Tuchel dabei die wenig diplomatische Vorgehensweise wählt, steht er unter Beobachtung. Werden diese in der Vergangenheit geschürten Seilschaften allerdings beibehalten, wird sich voraussichtlich nicht genug ändern.

Auch Tuchel wird ein harter Umgang nachgesagt

Er unterhalte sich zu wenig mit Spielern, heißt es. Diesen Part übernimmt hauptsächlich Co-Trainer Zsolt Löw, der in der Mannschaft enorm geschätzt wird. Tuchel sei zu hart zu den Profis, lautet ein anderer Vorwurf. Wohlwissend, dass Spieler bei van Gaals Analysen weinten, wie Ex-Sportdirektor Nerlinger, der nach wie vor ein super Verhältnis zum Holländer pflegt, im Interview erzählt. Damals übernahm Andries Jonker, der Assistent, den Part des Seelenklempners. Er hat van Gaals Linie natürlich mitgetragen, war aber die ideale Ergänzung und im Umgang für die Spieler einfacher greifbar.

Die Parallelen sind gegeben. Nahezu jede davon deshalb, weil vieles aufgearbeitet werden muss und die Folgen der Misswirtschaft weitreichend sind. Schließlich haben beide das Erbe von Bayern-Trainer-Azubis angetreten. Es war Klinsmanns erste Station im Klubfußball, und Nagelsmann war und ist enorm jung. Ihm fehlte Reife, aber auch Führung. Für Tuchel, so ist aktuell zu hören, sei Bayern München ein "ambitioniertes Arbeitsumfeld", ein Klub, der anders funktioniert als seine vorherigen Stationen Chelsea oder Paris. Was auch bedeutet, dass er die Ausrichtung des FCB ebenfalls noch weiter verinnerlichen muss.

Van Gaal hatte sich damals beinahe geweigert, er zog seine Marschroute eiskalt durch. Schon früh in seiner ersten Saison hat es deshalb gekracht. Hoeneß war mit dem Auftreten nicht gänzlich einverstanden. Sein Ziehsohn Franck Ribery beispielsweise beschwerte sich anfangs mehrmals über den niederländischen Coach. Aber van Gaal blieb stur, nahm keine Rücksicht auf Befindlichkeiten, sagte indes, er brauche einen Gegenpol zu Ribery - und bekam Arjen Robben für das von ihm favorisierte und installierte 4-2-3-1, das sich auszahlen sollte und inzwischen als Teil der fußballerischen Klub-Identität gilt.

Wie van Gaal: Tuchel schreckt nicht vor fachlichen Konflikten zurück

Tuchel hingegen, dessen Fachkompetenz unter den Führungs- und Unterschiedsspielern außer Frage steht, möchte einen defensiven Sechser, um für mehr Stabilität und Kontrolle zu sorgen. Er betonte zudem mehrmals, dass der in den vergangenen Jahren unantastbare Joshua Kimmich nicht mehr ganz unantastbar sei. Was zeigt: Beide, van Gaal wie Tuchel, scheuen den fachlichen Konflikt keineswegs - ob mit der Führung oder mit prominenten Spielern.

Louis van Gaal, Thomas Müller

Louis van Gaal (re.) schenkte unter anderem einem jungen Thomas Müller das Vertrauen. imago/photoarena/Eisenhuth

Im Winter soll auf dem Transfermarkt nachgelegt werden, in der Defensive besteht Handlungsbedarf. Christoph Freund, der neue Sportdirektor, plant mit seinem Team sowie in enger Absprache mit dem Cheftrainer potenzielle Neuzugänge. Das Verhältnis zwischen ihm und Tuchel soll überdurchschnittlich gut sein, sie tauschen sich täglich aus. Das war in der Vergangenheit bei Tuchel nicht immer so, eckte er doch häufig mit den Sportlichen Leitern seiner Ex-Klubs an. Auch in der zurückliegenden Transferperiode soll sich der bayerische Fußballlehrer bei manchen Personalien etwas unschlüssig verhalten haben.

Aktuell aber sind die Gespräche zwischen Freund und Tuchel zielführend und sich die beiden nach kicker-Informationen bei sportlichen wie personellen Vorstellungen einig. Dazu gehört beispielsweise auch die schrittweise Integration der Youngster Mathys Tel und Frans Krätzig, hatten es doch Nachwuchsspieler in der Vergangenheit nicht leicht beim Rekordmeister. Auch unter van Gaal wurden Talente wie die jungen Thomas Müller und Holger Badstuber gefördert.

Tuchel ist sich seiner Aufgabe bewusst. Konnte er in den ersten Monaten aufgrund der Verfassung des Teams allein verwalten, wird sein Wirken seit 1. September nun bewertet. Genau wie van Gaal ist er ein harter Trainer, der höchste Anforderungen an seine Spieler stellt. Auf und neben dem Platz. Das mag unangenehm sein. Komfortzonen gibt es - aus gutem Grund - keine mehr. Blickt man aber auf die Zeit unter dem Niederländer zurück, könnte das, was einmal war, wieder so sein. Dank der schonungslosen Herangehensweise mit neuen Strukturen für eine erfolgreiche Zukunft, nachdem wahre Probleme in der Vergangenheit häufig vertuscht wurden.

Georg Holzner

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