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Scherbenhaufen statt Aufbruchsstimmung: Beim FC Barcelona regiert das Chaos

Beim FC Barcelona regiert das Chaos

Scherbenhaufen statt Aufbruchsstimmung

Blick ins Ungewisse: Lionel Messi, Ronald Koeman und Josep Bartomeu.

Blick ins Ungewisse: Lionel Messi, Ronald Koeman und Josep Bartomeu. picture alliance/Getty Images

Luis Suarez ist ein emotionaler Typ. Als er sich am Donnerstag vom FC Barcelona verabschiedete, flossen die Tränen. Dass der Uruguayer aber auch den Schalk im Nacken hat, zeigte eine Gestik, die eigentlich alles aussagt über den FC Barcelona im September 2020. "Können Sie sich irgendetwas vorwerfen?", fragte ein Reporter. Suarez dachte nach, grinste breit und antwortete dann: "Ich, oder...?" Dabei machte er eine leichte Kopfbewegung nach rechts. Und zeigte damit in die Richtung, wo Josep Maria Bartomeu saß.

Während Suarez nur leicht den Kopf bewegte, schütteln andere ihn einfach nur noch. Zwei Tage vor dem Liga-Auftakt gegen den FC Villarreal (Sonntag, 21 Uhr) ist nicht nur Suarez weg, sondern auch Arturo Vidal weg, Ivan Rakitic weg, Nelson Semedo weg und Arthur schon lange weg. Das wäre noch zu verschmerzen, einige davon waren schlicht über ihrem Zenit. Gekommen sind aber nur Miralem Pjanic (Juventus) und Youngster Trincao (Sporting Braga). Namhafte Neuzugänge wie Memphis Depay, Lautaro Martinez oder Georginio Wijnaldum lassen auf sich warten. Selbst wenn sie kommen, müssen sie erst integriert werden. Und das kann dauern.

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All das ist schon verwunderlich, doch geradezu unerklärlich ist, dass sich die Katalanen immer noch nicht in der Abwehr verstärkt haben. Bedarf ist vorhanden, schon lange. Den bitteren Pleiten in der Champions League in Rom (2018, 0:3) und Liverpool (2019, 0:4) folgte nun das Debakel gegen die Bayern (2:8). Antonio Rüdiger ist inzwischen im Gespräch, allerdings auch von anderen Vereinen umworben. Auch der deutsche Nationalspieler würde sicherlich Zeit brauchen in einem neuen Team und einer neuen Liga. Ajax Amsterdams Sergino Dest wird umworben und wäre nach den 30 Millionen Euro Ablösesumme für Semedo auch erschwinglich für das klamme Barcelona, das sich ansonsten wohl mit Leihgeschäften behelfen muss.

Immerhin, die Kardinalfrage stellt sich nicht mehr: Messi bleibt. Doch ist das wirklich mehr Segen als Fluch? Klar, die sportliche Klasse des Argentiniers ist trotz seiner 33 Jahre unbestritten, das findet auch Neu-Coach Ronald Koeman: "Er ist der Beste", sagte der 57-Jährige kürzlich. "Ich hoffe, er kann das auch in dieser Saison wieder zeigen."

...aber ehrlich gesagt überrascht mich nichts mehr.

Lionel Messi in Richtung Vereinsspitze nach Suarez' Abschied

Die Frage lautet aber: Kann Messi überhaupt seine Bestleistung abrufen? Ein Spieler, der bleiben muss und nicht will? Der erklärt, er wollte seine "letzten Jahre als Fußballer glücklich verbringen. Und zuletzt habe ich in diesem Klub kein Glück mehr gefunden." Der über die Vereinspolitik sagt, "es gab für lange Zeit kein Projekt, sie machten halbe Sachen". Und der über den Präsidenten zetert, dieser habe "sein Wort nicht gehalten" und habe ihn "ständig im Dunkeln" gelassen. Die nächste Messi-Breitseite folgte einen Tag nach Suarez' Abschiedsrede: "Du hättest es verdient gehabt, als das verabschiedet zu werden, was du warst: einer der wichtigsten Spieler der Klubgeschichte. Und nicht einfach rausgeschmissen zu werden, so wie sie es getan haben. Aber ehrlich gesagt überrascht mich nichts mehr."

Messis Körpersprache gegen Bayern sät Zweifel

Dass Messi - nun auch noch ohne seine beiden Kumpels Suarez und Vidal - unter all diesen Voraussetzungen eine starke Saison spielt, dafür bedarf es schon viel Fantasie. Er werde sein Bestes geben, trotz der Umstände. Er wolle sowieso "immer das Beste für den Klub, meine Mitspieler und mich selbst". Doch das wollte Messi beim Bayern-Debakel definitiv nicht. Da stand, auch in Sachen Körpersprache, kein Spieler auf dem Platz, der sich bis zur letzten Minute für das Team und den Klub zerriss. Sondern einer, der einfach nur weg wollte: aus dem Team, aus dem Verein, aus Barcelona.

Mittendrin in dem Trubel stand und steht ein Ronald Koeman, der irgendwie versuchen muss, den Scherbenhaufen zusammenzukehren. Er muss nicht nur einen Messi bei Laune halten, sondern auch den Umbruch vollziehen. Dass Riqui Puig dabei keine Rolle spielen soll, ließ so manchen Barça-Fan ratlos zurück, viele sahen in dem 21-Jährigen einen Hoffnungsträger. Koeman nicht, er legte ihm eine Leihe nahe. Der Niederländer hatte wohl auf Stareinkäufe gehofft, er soll alles andere als zufrieden sein - sowohl mit der Personalpolitik als auch mit der des Vereins. "Koeman beginnt zu misstrauen", titelte die Marca. Der 57-Jährige fühle sich "vom Klub allein gelassen".

Coutinho & Co. können profitieren

Immerhin: Barcelonas Scherbenhaufen bietet auch Chancen. Für Philippe Coutinho zum Beispiel, der in den Testspielen gezeigt hat, den Durchbruch bei Barça im zweiten Anlauf schaffen zu können. Für Antoine Griezmann, der in Koemans 4-2-3-1-System von Suarez' Abgang profitieren könnte. Der Franzose muss nun zeigen, was in ihm steckt. Für Ousmane Dembelé, sollte er verletzungsfrei bleiben. Und natürlich für Ansu Fati, der jede Menge Spielpraxis bekommen wird. Auch Trincao dürfte profitieren von der lahmen und lähmenden Transferpolitik des Vereins.

Die Verantwortung dafür trägt in erster Linie Bartomeu, der so gut wie keine Lobby mehr bei Barça hat. Ein Misstrauensvotum hat die erforderliche Anzahl an Unterschriften erreicht, ein Referendum dürfte folgen. Von alleine gehen wird er vor den Neuwahlen im März nicht: "Niemand plant zu diesem Zeitpunkt, zurückzutreten", beteuerte er am vergangenen Sonntag. "Der Vorstand wird weiterhin daran arbeiten, den Kader so wettbewerbsfähig wie möglich zu machen. Wir haben viele Dinge zu tun."

Viel zu tun, das kann man wohl sagen. Bartomeu muss sich einiges vorwerfen lassen. Und schon ist man wieder geneigt, an Suarez zu denken. "Ich, oder...?"

Christoph Laskowski