Int. Fußball

"Schau in dieses Gesicht. Ich werde ein Star!" Simeone und die Idee des "Cholismo"

Erneut spanischer Meister mit Atletico

"Schau in dieses Gesicht. Ich werde ein Star!" Simeone und die Idee des "Cholismo"

Die vielen Gesichter des Cholo Simeone: Nachdenklich mit Mono Burgos, entschlossen als Atletico-Spieler, feiernd bei der Meisterschaft 2014.

Die vielen Gesichter des Cholo Simeone: Nachdenklich mit Mono Burgos, entschlossen als Atletico-Spieler, feiernd bei der Meisterschaft 2014. imago images (3)

Zurück, zurück. Weiter. Noch ein Stück. Stopp! Jetzt vor - aber nicht zu weit vor. Zurück, um Himmels willen! OK, jetzt rechts. Oder Moment, warte mal. Links! Noch ein paar Zentimeter. Gut, passt.

So ungefähr klingt es, wenn jemand in eine enge Parklücke eingewiesen wird. Oder man hat gerade Diego Simeone beschrieben, wie er einen seiner Spieler bei einem gegnerischen Einwurf dirigiert hat.

Selbst bei einem Abschlag des eigenen Torhüters hätte Simeone am liebsten fünf Arme, um ja nur alles regeln zu können, siehe das vorletzte Heimspiel 2020/21 gegen Real Sociedad (2:1). Spötter würden behaupten, sein wildes Gewusel sei immer noch abwechslungsreicher als so manches Atletico-Spiel. Karl-Heinz Rummenigge sagte einmal vor einer Champions-League-Auslosung, gegen Atletico hätte er am "unliebsten" gespielt. "Fußball hat auch was mit Freude und Spektakel zu tun. Und dafür steht dieser Klub nicht." Simeones Antwort: "Ich verstehe seine Kritik nicht. Als Spieler hätte er gut zu uns gepasst."

"Cholo, ich muss dich leider rauswerfen"

Diego Simeone, das ist zum einen lodernde Leidenschaft, aber eben auch die personifizierte Provokanz. Zwischen 2011 und 2018 flog der Argentinier allein sechsmal vom Platz. Nach dem verlorenen Finale der Königsklasse 2014 schimpfte er auf Reals Raphael Varane ein, beim Supercup drei Monate später - wieder gegen Real - ging er den Schiedsrichter tätlich an, applaudierte hämisch, der vierte Offzielle bekam auch noch zwei wenig freundschaftliche Klapse auf den Hinterkopf mit - acht Spiele Sperre. 2016 war es mutmaßlich Simeone, der gegen Malaga einen zweiten Ball aufs Spielfeld warf, um einen Konter zu unterbinden. "Cholo, ich muss dich leider rauswerfen", sagte damals Referee Antonio Mateu Lahoz. Weil er im Halbfinale der Europa League 2018 gegen Arsenal derart ausrastete, dass er gleich vier Spiele gesperrt wurde, erlebte er den Titelgewinn gegen Marseille von der Tribüne mit.

Bis Sommer 2020 hatte der stets im schwarzen Maßanzug auftretende Simeone ja auch noch Landsmann Mono Burgos, den fluchenden Affen mit Google Glasses (inzwischen Trainer bei Newell's Old Boys), an seiner Seite. Ein Duo, das jahrelang Angst und Schrecken an den Seitenlinien dieser Welt verbreitete, auch Menschen mit wenig Phantasie könnten sich die beiden wunderbar als Türsteher vor einer Großraumdisko vorstellen.

Die vielen Gesichter des Cholo Simeone: Nachdenklich mit Mono Burgos, entschlossen als Atletico-Spieler, feiernd bei der Meisterschaft 2014.

Auch er bekam sein Fett weg: Roger Schmidt im Clinch mit Mono Burgos und Diego Simeone. imago images

Mit den beiden Rowdies machte auch Roger Schmidt im Februar 2015 unliebsame Bekanntschaft, der damalige Leverkusen-Coach wurde unter anderem als "Oberarschloch" und "Stricher" beschimpft. "Kennt man ja von Atletico", sagte Schmidt danach, vor allem störte ihn aber, dass Burgos ununterbrochen Karten für Bayer forderte. Ein Julian Nagelsmann sagte vor dem Champions-League-Viertelfinale 2020 mit Leipzig tapfer: "Ich werde dagegenhalten, wenn es zu viel wird", um dann auch gleich nachzuschieben: "Aber ich werde nicht allzu viel zu ihm rüberschauen. Wenn ich im Spiel genauso viel auf ihn achten würde wie in der Videoanalyse, würde ich ausflippen."

Ausflippen ist eher Simeones Ding. Es wäre sicher nicht falsch, ihn als herumpolternden Dauer-Protestierer zu charakterisieren, der auf gute Manieren genauso pfeift wie auf Fair Play und überdies auch noch mitunter unattraktiven Fußball spielen lässt. Doch genau darin liegt unter anderem das Erfolgsgeheimnis von Diego "Cholo" Simeone. All das gehört zum sogenannten "Cholismo", dem Synonym für die Spielweise Atleticos.

Selbst eine Strumpfhose musste herhalten

So eine richtige Definition davon gibt es nicht. Vielleicht lohnt sich einfach ein Blick in Simeones Vergangenheit, um den Cholismo zu erklären. Wie Simeone als Kind durch die Calle Costa Rica in Palermo Viejo, einem Stadtteil im Herzen von Buenos Aires, tobte, immer mit einem Ball am Fuß. Wie er sich einen neuen Ball mit einer mit Papier ausgestopften Strumpfhose bastelte, weil er ständig Mutters Blumentöpfe zerschoss und sie den Ball irgendwann einzog. Oder wie er an seiner Schulbank mit einem Band einen anderen Ball befestigte, um heimlich dagegen kicken zu können, wenn die Lehrer wegschauten.

Früh wurde Velez Sarsfield auf diesen fußballfanatischen Dreikäsehoch aufmerksam, dort bekam er als 14-Jähriger seinen Spitznamen weg: Cholo. Beim Klub aus Buenos Aires hatte es in den 50er Jahren schon einmal einen Profi namens Simeone gegeben. Auch dessen Spitzname war Cholo, eigentlich eine abwertende und beleidigende Bezeichnung für Menschen mit indigenen Wurzeln.

Schau in dieses Gesicht. Ich werde ein Star! Ich werde für Argentinien spielen.

Diego Simeone

Simeone trägt ihn voller Stolz, sein Selbstvertrauen ist unermesslich. Als Balljunge soll er als Elfjähriger bei einem Spiel von Sarsfield mal einen zweiten Ball ins Spielfeld geworfen haben, um einen Konter von Boca Juniors zu unterbinden (Stichwort Malaga!), das Magazin "Fourfourtwo" berichtet von einer weiteren Anekdote. Simeone und ein Teamkollege hatten den Bus zum Training eines argentinischen Juniorennationalteams verpasst. Per Metro und Omnibussen bahnte sich das Duo seinen Weg, bis das Geld ausging. "Schau in dieses Gesicht", sagte er dem Busfahrer. "Ich werde ein Star! Ich werde für Argentinien spielen. Fahr uns bitte dahin." Der Fahrer nahm sie mit bis zur Endhaltestelle, die restlichen fünf Kilometer rannten die beiden. Sie kamen an, als das Training endete.

Dem Busfahrer hatte er nicht zu viel versprochen. Simeone wurde ein Star. Simeone wurde Nationalspieler, 106-mal trug er das Trikot der Albiceleste. Unvergessen, wie er bei der WM 1998 eine Rote Karte für David Beckham provozierte, England verlor das Achtelfinale. "Offensichtlich war es schlau, dass ich mich fallen ließ", sagte er. Dass er den Engländer das ganze Spiel lang getriezt hatte, daraus machte der kampfstarke Sechser keinen Hehl.

Die vielen Gesichter des Cholo Simeone: Nachdenklich mit Mono Burgos, entschlossen als Atletico-Spieler, feiernd bei der Meisterschaft 2014.

Provokateur als Spieler und Trainer: Diego Simeone triezte David Beckham bis zum Platzverweis. imago images

Seine Titel heimste der "Spieler, der das Messer zwischen den Zähnen trägt" (Simeone über Simeone), aber mit den Vereinen ein, pendelte zwischen Italien und Spanien hin und her. Mit Atletico gewann er 1996 das Double aus Meisterschaft und Pokal, schon damals war er Publikumsliebling. 2003 kehrte er zu den Colchoneros zurück, doch da war er schon über dem Zenit, sein Vertrag wurde nicht verlängert. "Ich konnte nicht aufhören zu weinen", erinnert sich Cholo an diese Zeit. "Aber ich musste im Guten gehen. Weil ich als Trainer zurückkehren wollte."

Als Simeone bei Racing Club über Nacht vom Spieler zum Coach umfunktioniert wurde, begann in der Tat seine zweite Karriere. Seit 2011 ist er zurück bei den Rot-Weißen, mit klaren Maximen und martialischen Aphorismen für den "Cholismo" im Gepäck. Eine kleine Auswahl gefällig?

"Jemand kann sagen: 'Ich will spielen wie Barcelona'. Aber wir sind nicht Barcelona, und wir werden es nie sein."

"Die Leute sind besessen von Ballbesitz. Doch der macht einen auch bequem. Das tut uns nicht gut."

"In einer Schlacht gewinnt nicht immer der Bessere. Sondern der mit der besseren Strategie."

"Ich danke den Müttern meiner Spieler für die Eier, die sie ihnen gegeben haben."

"Meine Spieler würden für mich sterben, denn sie haben keine Angst vor dem Tod."

Identifikation, Kampf, Leidenschaft, Schlitzohrigkeit, all das ist also Cholismo. Und Fitness. Dafür ist Oscar Ortega, Atletico Madrids Konditionstrainer zuständig, den sie nur "El Profe", den Professor, nennen. "Ich habe keine Angst vor der Waage", sagte der zu Übergewicht neigende Diego Costa, nachdem er 2017 von Chelsea zu Atletico zurückgekehrt war. "Ich habe Angst vor dem Training des Profe Ortega."

Simeone, der Klopp- und Mourinho-Sympathisant, hat mit seinen Methoden viel erreicht. Seine Spieler zerreißen sich für ihn, weil sie wissen, dass er sich für sie zerreißt. Mit ihm gewann Atletico zweimal die Europa League (2012, 2018), den Pokal (2013), stand zweimal im Champions-League-Finale (2014, 2016) und gewann nun zweimal die Meisterschaft (2014, 2021).

Simeone hat es verdient

Ob man Simeone nun mag oder nicht, verdient hat er die zweite Meisterschaft mit Atletico, vielleicht mehr denn je. Gerade diese Saison hat gezeigt, dass er mehr kann als den Cholismo, diese zerstörerische Kraft. Weil er nicht mehr stur auf einem 4-4-2 beharrt. Weil er Marcos Llorentes Offensivpotenzial im Gegensatz zu Real Madrid erkannte. Weil er Luis Suarez optimal ins Team einbaute. Aber auch, weil seine Non-Konformität eben doch einen gewissen Charme besitzt. Und: weil er nie aufgibt.

"Glauben. Die Herausforderung, sich immer wieder selbst zu übertreffen" - das ist in gewisser Weise auch ein Zitat Simeones. Es ist der Name seiner Autobiographie.

(Dieser Text erschien erstmals am 22. Mai 2021)

Christoph Laskowski