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Antonio Rüdiger im großen Interview: "Ignorant. Respektlos. Egoistisch."

Der Nationalspieler über die Coronakrise und seine Hoffnungen

Rüdiger im großen Interview: "Ignorant. Respektlos. Egoistisch."

"Das ist das Allerwichtigste - nicht, wie ich mich persönlich dabei fühle": Antonio Rüdiger.

"Das ist das Allerwichtigste - nicht, wie ich mich persönlich dabei fühle": Antonio Rüdiger. Getty Images

Erst die Pflicht, dann die Abwechslung in diesen schwierigen, außergewöhnlichen Tagen. Bevor Antonio Rüdiger sich den Fragen des kicker widmet, absolviert er daheim - in der Nähe von Chelseas Trainingsgelände in Cobham - seine tägliche Fitness-Session. Dann nimmt er sich viel Zeit für das Gespräch.

Herr Rüdiger, die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es Ihnen?

Danke der Nachfrage. Gesundheitlich geht es mir sehr gut. Ich hoffe, Ihnen auch.

Danke, ja. Sie befinden sich - wie alle Chelsea-Profis - in häuslicher Quarantäne. Haben Sie ein individuelles Trainingsprogramm bekommen, und was können Sie überhaupt machen? Drinnen auf dem Laufband und Krafttraining, im Garten dribbeln?

Ich habe einen Fahrradtrainer und andere Fitnessgeräte daheim und kann mich damit körperlich sehr gut fithalten. Das mache ich aber so oder so. Dribbeln eher nicht, das Training mit Ball fehlt einem etwas. Aber das Kicken werde ich nicht gleich verlernen, auch bei einer längeren Pause. Wichtig ist, dass man fit bleibt - für sich selbst und natürlich für "Tag x", wann auch immer es weitergehen wird...

Fühlen Sie sich buchstäblich isoliert, oder ist es mit Ihren Liebsten daheim erträglich?

Privat ist es für mich gerade nicht wirklich großartig anders als sonst. Aufgrund unseres Bekanntheitsgrades halte ich mich im Alltag zum Großteil aus dem öffentlichen Leben sowieso heraus. Klar bin ich sonst ab und zu mal in Restaurants, aber meistens bin ich eh immer nur am Trainingsgelände oder bei mir zu Hause mit der Familie. Natürlich fehlen einem das Mannschaftstraining und die Kollegen.

Apropos Kollegen: War es ein Schock, als Callum Hudson-Odoi, dem es schon wieder bessergehen soll, positiv auf das Coronavirus getestet wurde?

Ja, im ersten Moment war ich natürlich kurz erschrocken. Zumal Callum auch einer meiner engsten Freunde im Team ist. Aber er hatte uns allen persönlich gleich Entwarnung gegeben, dass es ihm so weit gutgeht.

"Wer keine Symptome aufwies, wurde nicht umgehend getestet"

Sind daraufhin alle Spieler und Mitarbeiter des FC Chelsea getestet worden?

Nein - nach dem positiven Befund am Freitag vor einer Woche wurden wir alle sofort in die 14-tägige häusliche Quarantäne geschickt. Wer aber keine Symptome aufwies, der wurde auch nicht umgehend getestet.

Wenn Sie Ihr Training absolviert haben, wird täglich noch Zeit bleiben. Wie nutzen Sie die momentan?

Zum Glück kann man über digitale Möglichkeiten mit allen weiter verbunden bleiben. Trotz der Isolation tausche ich mich über WhatsApp, Telefon und Facetime gerade sehr viel mit meiner Familie in Deutschland aus. Ansonsten wird auch sehr viel gezockt auf der Playstation, vor allem Pro Evolution Soccer.

Sind Sie dann virtuell der FC Chelsea oder die deutsche Nationalmannschaft?

Nichts von beidem (lacht). Ich spiele dann öfter mit National- oder Vereinsteams, die ich so im Alltag weniger verfolge. Damit bleibt mein Fußballwissen in Ligen wie Italien oder Frankreich auch immer auf dem neuesten Stand.

Ist Ihr kleiner Sohn derzeit Ihr größter Anker?

Tatsächlich, ja. Ich war natürlich nach Callums positivem Befund zu Hause erst mal etwas vorsichtig im Umgang mit ihm und habe Abstand gehalten. Ansonsten ist das aber in der sonst schwierigen Situation derzeit einer der wenigen schönen Aspekte: Ich bin immer in der Nähe von meinem Sohn und kann für ihn da sein. Er ist erst wenige Wochen alt, und im Normalfall hätte ich in der aktuellen Phase fast immer zwei Spiele pro Woche, viele auswärts. Meine Frau ist jedenfalls nicht wirklich traurig darüber, dass derzeit keine Spiele stattfinden.

Was fehlt Ihnen am meisten, Ihre Teamkollegen, der Geruch des Rasens und der Kabine oder Ihr Lieblingsitaliener an der Fulham Road in London?

Ganz klar: das Adrenalin am Spieltag. Gemeinsam auf den Platz rauszugehen und in einem vollen Stadion Fußball zu spielen. Das ist das, woran ich mich gewöhnt habe. Aktuell ist das dann schon seltsam, weil man einfach gar nicht weiß, wann und ob es überhaupt weitergeht.

Weitergehen soll es vereinzelt bald mit Trainingseinheiten bei einigen Teams. Gibt es solche Signale auch bei Chelsea?

Bei uns gilt jetzt erst einmal sowieso noch die häusliche Quarantäne. Anschließend werden wir weitersehen. Man muss derzeit einfach kurzfristig denken. Jeden Tag gibt es neue Entwicklungen.

Die Premier League hat beschlossen, die Saison irgendwie auf jeden Fall zu Ende spielen zu wollen. Die Rede ist von Juni, Juli.

Den Plan finde ich gut. Falls das möglich sein sollte, wäre es sicher die fairste Lösung. Aber letztlich bleibt es fraglich, weil es einfach von der weiteren Entwicklung der Pandemie abhängig ist. Die kann keiner vorhersehen. Vielleicht zieht es sich noch ein paar Monate.

"Am Ende würden alle Geisterspiele akzeptieren"

Offiziell wird bis zum 30. April pausiert. Ist es realistisch zu hoffen, dass danach gespielt wird?

Ganz ehrlich? Keine Ahnung! Viele Klubs sind finanziell davon abhängig, dass es weitergeht, aber das trifft auf viele andere Branchen ebenfalls zu - teilweise sogar noch dramatischer, wenn ich zum Beispiel an die Gastronomie oder den Tourismus denke. Vor zwei Wochen waren für viele Fans Geisterspiele noch undenkbar.

Und jetzt?

Klar macht das für alle weniger Spaß. Wie gesagt: Ich liebe es, in ein volles Stadion einzulaufen. Aber ich gehe davon aus, dass in wenigen Wochen die Sehnsucht nach Fußball so riesig sein wird, dass am Ende alle, auch die Fans, Geisterspiele akzeptieren würden. Es darf dann bloß nicht passieren, dass sich die Anhänger wie in Paris beim Match PSG gegen Borussia Dortmund zu Tausenden vor dem Stadion treffen - sonst ergibt das ja alles keinen Sinn. Aber wir werden sehen, wie hoch die Anzahl der Infizierten Mitte, Ende April ist, und dann kann man schon besser eine Entscheidung treffen.

Antonio Rüdiger

Wichtiger als der baldige Restart der Premiere League ist für Antonio Rüdiger, die Coronakrise in den Griff zu bekommen. imago images

Möchten Sie in der Haut derer stecken, die das dann letztlich entscheiden und vor allem verantworten müssen?

Definitiv nicht. Es wird nicht möglich sein, eine Entscheidung zu treffen, die alle Seiten zufriedenstellt.

Was wäre, wenn tatsächlich 2020 kein Fußball mehr gespielt werden dürfte, wie es ein Virologe neulich andeutete, wie verkraften Sie das?

Wenn es dabei um die Gesundheit aller geht, werden wir das natürlich alle verstehen und uns danach richten. Das ist das Allerwichtigste. Nicht, wie ich mich persönlich dabei fühle. Mein größter Wunsch ist derzeit nur, dass wir bald den Tag erreichen, an dem die Zahl der Infizierten wieder kleiner ist als am Tag zuvor. Nicht aber, dass die Premier League sofort wieder weitergeht...

Liverpool? Da muss ich Ihnen klar sagen: Sollte sich die Lage weiter zuspitzen, ist das definitiv eine unwichtige Frage.

Antonio Rüdiger

Wenn der Plan der Liga nicht aufgeht und nicht mehr weitergespielt werden dürfte, fänden Sie es fairer, wenn der aktuelle Stand gewertet oder die Saison annulliert würde?

Wenn es dazu kommen sollte, kann so etwas nur eine neutrale Instanz entscheiden. Die Spieler oder Klubs braucht man dazu nicht zu befragen. Hier würde jeder nur schauen, mit welcher Entscheidung er besser wegkäme, aber nicht, was nun wirklich fairer ist.

Würden Sie bei einem Abbruch mit dem FC Liverpool fühlen, wenn er so kurz vor dem Ziel und nach 30 Jahren Warten auf diesen Titel nicht Meister würde? Und ist das aktuell überhaupt eine relevante Frage, oder ist es geheuchelt, wenn man diese Frage als unwichtig abtut, weil der Fußball für viele eben doch eine sehr große Bedeutung hat?

Da muss ich Ihnen klar sagen: Sollte sich die Lage weiter zuspitzen, ist das definitiv eine unwichtige Frage. Denn dann haben wir ganz andere Probleme. Und selbst wenn man das wichtigste Thema, die Gesundheit, mal ganz kurz ausklammert: Die Existenz von allen möglichen Fußballklubs hat dann eine viel höhere Priorität als die Vergabe von Titeln und Champions-League-Qualifikationen.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie mitbekommen, wie viele Menschen die Warnungen missachten?

Das ist ignorant und verantwortungslos! Ich habe in den sozialen Netzwerken einige Fotos aus deutschen Innenstädten gesehen und habe mir nur an den Kopf gefasst. Wenn auf die Empfehlungen, doch bitte zu Hause zu bleiben, nicht gehört wird, ist eine Ausgangssperre leider alternativlos.

Es gibt viel Hilfsbereitschaft, aber auch Ignoranz, zuweilen sogar Boshaftigkeit in Zeiten von Corona. Was denken Sie in diesen Tagen über die Spezies Mensch?

Es gibt scheinbar sehr viele, zu viele Menschen, die nicht verstehen, dass sie persönlich vielleicht nicht stärker gefährdet sind, aber sehr wohl Menschen in ihrem Umfeld - und damit dann leichtfertig umgehen. Das ist einfach nur egoistisch. Eine extrem wichtige Rolle haben hier dann aber auch alle Medien: Sie müssen die goldene Mitte treffen und aufklären, damit es keiner auf die leichte Schulter nimmt, gleichzeitig dürfen sie aber auch keine Panik auslösen. Das ist nicht leicht, aber extrem entscheidend in dieser Situation.

Goretzka und Kimmich? "Ehrenmänner!"

Sie sprechen die Medien an, die informieren. Fußballprofis aber sind Idole, auf deren Handeln sehr geschaut wird. Fühlen Sie sich berufen, selbst diverse Aufrufe zu starten, wie es zum Beispiel Jürgen Klopp tat?

Ja, sicher haben wir eine Vorbildfunktion und erreichen gerade als deutsche Nationalspieler vielleicht auch eine junge Zielgruppe, die nicht jeder Politiker erreicht. Wenn wir gerade nicht auf dem Fußballplatz stehen dürfen, haben wir nun die Aufgabe, uns anderweitig zu engagieren. Das war auch der Hintergrund unserer gemeinsamen Spendenaktion beim DFB.

Dabei hat die deutsche Nationalmannschaft 2,5 Millionen Euro gespendet. Inwieweit waren Sie in die Entstehung eingebunden?

Das ging vor allem vom Mannschaftsrat aus, der dann auf die einzelnen Spieler zugegangen ist. Ich habe der Idee sofort zugestimmt und fand es klasse, dass auch jeder einzelne Spieler seine Bereitschaft erklärt hat zu helfen.

Durfte jeder spenden, wie viel er wollte, oder wurde das festgelegt?

Der DFB um Oli Bierhoff und der Mannschaftsrat haben das zusammen festgelegt und dann allen Spielern vorgestellt. Genau so wurde es dann auch umgesetzt.

Was sagen Sie zu Ihren DFB-Teamkollegen, den Bayern-Spielern Leon Goretzka und Joshua Kimmich, die zusätzlich eine Million Euro spenden und "We kick Corona" ins Leben gerufen haben?

Ehrenmänner! Sie haben mich ebenfalls kontaktiert, und wir sprechen gerade darüber, wie ich die Aktion am besten unterstützen kann.

Um Fußballprofis muss sich keiner sorgen, um normale Angestellte, auch in den Klubs, schon. Wie definieren Sie den Begriff Solidarität?

Ich finde es wichtig, dass wir Fußballer unsere Reichweite nutzen, um die Botschaften der Gesundheitsexperten zu bekräftigen. Aber natürlich müssen diesen Worten dann auch Taten folgen. Wie eben mit der Spendenaktion.

Derzeit wird überall zu Recht die Bedeutung von Medizinern, Pflegekräften, Kassiererinnen hervorgehoben. Ist es okay für Sie, wenn der Beruf des Fußballprofis als "völlig unwichtig" eingestuft wird, obwohl viele das Spiel ganz fürchterlich vermissen, wenn sie ehrlich sind?

Wir müssen wirklich nicht über Fußballer reden. All diese Leute, die gegen die Ausbreitung des Virus für uns kämpfen bzw. in den Lebensmittelläden die Versorgung sicherstellen, die haben meinen größten Respekt. Das sollten wir auf keinen Fall als selbstverständlich hinnehmen und ihnen große Dankbarkeit zeigen.

Was ist in diesem Zusammenhang der wichtigste Wert, den Sie Ihrem Sohn mal mitgeben wollen?

Ganz klar: Respekt! Wer in diesen Tagen der Krise egoistisch ist und nur an sich denkt, handelt vor allem respektlos gegenüber den Mitmenschen.

An diesen Egoismus hat wohl auch Bundestrainer Joachim Löw gedacht, als er meinte, die Welt wehre sich nun gegen das Tun der Menschen.

Da stimme ich ihm zu 100 Prozent zu. Man sieht es ja bei diesen Hamsterkäufen in den Lebensmittelgeschäften. Wahnsinn! Diese Krise zeigt uns gerade, wie verantwortungslos ein Mensch sein kann.

Antonio Rüdiger

Eine EM im Jahr 2020 wäre aus Sicht von Antonio Rüdiger für ihn von der Fitness her kein Problem gewesen. imago images

Es gibt aber auch Gutes: Wie bewerten Sie die Aktion Ihres Klubs, der das Hotel an der Stamford Bridge für Hilfskräfte zur Verfügung gestellt hat?

Das ist stark! Der FC Chelsea zeigt, dass er niemanden alleinlässt in dieser Situation.

Noch mal zur Nationalmannschaft: Die EM-Endrunde wurde sinnvollerweise auf 2021 verlegt. Nur rein sportlich: Bedauern Sie das, weil Sie zu Saisonbeginn lange verletzungsbedingt fehlten?

Ich war zuletzt schon wieder topfit. Eine EM wäre körperlich gar kein Problem gewesen, gerade weil ich zum Saisonstart noch verletzt war und dann eine relativ kurze Saison gehabt hätte. Grundsätzlich war die Vorfreude also riesig auf das Turnier. Aber um das auch noch mal klarzustellen: Ich habe natürlich vollstes Verständnis dafür, dass man das Turnier nicht diesen Sommer stattfinden lassen kann.

Die Saison könnte dadurch über den 30. Juni hinaus verlängert werden. Sind Sie froh, dass das Ihren Vertrag, der bis 2022 läuft, nicht tangiert?

Da mein Bruder selbst Spielerberater ist, weiß ich, wie undurchsichtig gerade die Situation ist. Keiner weiß, wann überhaupt das Transferfenster geöffnet und geschlossen sein wird. Keiner weiß, was mit auslaufenden Verträgen passiert, falls die Restsaison in den Juli hineinreichen wird. Da bleibt leider nichts anderes als abzuwarten. Und ja, es ist sicherlich kein Nachteil, dass mich zumindest diese vertragliche Unklarheit derzeit erst mal nicht beschäftigt.

Welche Chancen sehen Sie in der Krise, was eine Erdung der Menschen und des Fußballs angeht?

Natürlich steckt darin auch etwas Hoffnung, dass sich menschlich etwas verbessert.

Welche konkret?

Dass der Mensch in Europa dankbarer dafür wird, welche Privilegien er hat, im Normalfall ein beschwerdefreies, öffentliches Leben zu führen. Ich habe Wurzeln in Sierra Leone, war dort schon vor Ort und weiß daher sehr genau, wie gut es uns hier geht. Dort gibt es Menschen, die jeden Tag ums Überleben kämpfen. Das sind wirkliche Probleme. Wenn bei uns Menschen 14 Tage in die häusliche Quarantäne müssen, wird sich schon beschwert. Dabei ist auch dann in Deutschland immer noch jeder ausreichend versorgt. Ich hoffe also, dass nach der Corona-Krise jeder sein Leben wieder mehr zu schätzen weiß. Und noch eines möchte ich bitte den Lesern des kicker und allen anderen mit auf den Weg geben...

Sehr gerne.

Ich hoffe, ihr bleibt alle gesund! Bleibt stark, und denkt daran: Fußball hat im Moment keine Priorität, es geht einzig und alleine darum, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Interview: Thomas Böker

Die finanziellen Folgen der Krise - Klub für Klub