Bundesliga

Jens Nowotny im Interview: "Geht es schief, rollt dein Kopf"

Ex-Nationalspieler wird 50 Jahre alt

Nowotny im Interview: "Daum sagte: Geht es schief, rollt dein Kopf"

"Wenn es nicht geklappt hätte, hätte ich dich rasiert": Jens Nowotny (li.) mit Christoph Daum.

"Wenn es nicht geklappt hätte, hätte ich dich rasiert": Jens Nowotny (li.) mit Christoph Daum. picture-alliance / dpa

kicker: Herr Nowotny, ein 50. Geburtstag ist für viele Menschen ein Grund zum Rekapitulieren. Stellen Sie sich mit Blick auf Ihre Karriere häufig die Frage "Was wäre gewesen, wenn"?

Jens Nowotny (50): Eher mit Blick auf das Ende in Leverkusen 2006. Da denke ich mir häufig: Was wäre gewesen, wenn ich geblieben wäre. Wäre ich dann vielleicht immer noch im Verein?

Der Kreuzbandriss im Champions-League-Halbfinale 2002 gegen Manchester United verfolgt Sie nicht mehr? Sie waren mit 28 auf dem Zenit Ihrer Karriere, wurden bei internationalen Topklubs gehandelt, verpassten durch die Verletzung dann das Finale gegen Real Madrid, die WM in Japan und Südkorea und machten wegen Folgeverletzungen nur noch 53 Bundesligaspiele.

Natürlich wäre ich gerne dabei gewesen, aber ich sehe immer die andere Seite. Das ist aber etwas, was meine Frau auch immer aufregt (lacht). In dem Fall denke ich: Wer sagt mir denn, dass es gut ausgegangen wäre, wenn ich gesund geblieben wäre?

CL-HALBFINALE 2002

Rudi Völler sagte mal, dass Leverkusen mit Ihnen im Saison-Endspurt mindestens die Meisterschaft geholt hätte.

Wenn ein Kapitän und Leistungsträger in so einer Phase wegbricht, kann das natürlich einen Knacks geben. Unterbewusst denkt man da vielleicht: 'Scheiße, jetzt ist der nicht da.' Aber niemand weiß, wie es mit mir gelaufen wäre.

Ohne Sie wurde Leverkusen am Ende dreimal nur Zweiter. Dennoch gilt das Team als beste Mannschaft der Vereinsgeschichte. Wird sich an diesem Narrativ in den nächsten Monaten etwas ändern?

Aktuell spielt Leverkusen überragenden Fußball. Ich tue mich zwar schwer damit, die beiden Mannschaften zu vergleichen. Aber vielleicht würde es unserer Generation von damals ganz gut tun, wenn sie dieses Jahr einen Titel holen.

Wieso das?

Damit wir nicht mehr meinen, wir sind die Größten. Dieser Gedanke herrscht bei vielen, auch aus dem Staff von damals, immer noch vor. Es wird aber vielen anderen tollen Mannschaften nicht gerecht, die Leverkusen seitdem hatte. Und wir haben am Ende auch keinen Titel geholt.

Sie gewannen ihren ersten Titel erst auf Ihrer letzten Profi-Saison bei Dinamo Zagreb. Dafür wurden Sie nun als Co-Trainer der deutschen U-17-Nationalmannschaft Weltmeister. Steht dieses Erlebnis ganz oben in deiner Karriere?

Nein, dafür bin ich immer noch zu sehr Spieler. Ich wäre lieber auf dem Platz gestanden als an der Seitenlinie. Außerdem bin ich ja erst kurz vor dem Turnier zur Mannschaft gestoßen und konnte keine wirkliche Bindung mehr zu der Mannschaft aufbauen.

Jens Nowotny

Endlich auch eine Goldmedaille: Co-Trainer Jens Nowotny beim Empfang der U-17-Weltmeister. picture alliance/dpa

Welchen Input kann man denn in so kurzer Zeit überhaupt noch geben?

Ich habe versucht, den Druck rauszunehmen, den Jungs zu vermitteln: Es gibt auch noch was ganz anderes im Leben als diesen einen Moment. Gar nicht durch Gespräche, sondern durch Präsenz, durch Augenzwinkern, mal ein Lächeln. Bei aller Anspannung ist die Lockerheit ein ganz wichtiger Faktor für den Erfolg. Brasilien im WM-Halbfinale 2014 ist das beste Beispiel. Da war nichts von Lockerheit, keine Freude, nur Anspannung und Druck. Wenn man das überstrapaziert, dann wirst du gehemmt.

Was muss passieren, damit die A-Nationalmannschaft bei der EM im eigenen Land ähnlich erfolgreich sein kann wie die U 17?

Ganz unabhängig vom Erfolg: Wenn die A-Nationalmannschaft bei der EM so auftreten würde wie die U 17 bei der EM, hätten wir schon gewonnen. Die Fans müssen sehen: Da ist eine Mannschaft auf dem Platz, die kämpft, bevor sie Fußball spielt - und nicht umgekehrt.

Das sollte man gerade bei einer Heim-EM aber doch eigentlich erwarten können.

Heute lernt ein Innenverteidiger im NLZ, dass sein Team Ballbesitz haben soll, dann muss er keine Zweikämpfe führen. Dann ist es schwierig, den Schalter umzulegen. Früher musste sich ein Trainer überlegen, wie seine Spieler bei schlechtem Rasen den Ball sauber stoppen. Heute muss er vermitteln, dass Fußball auch ein Lauf- und Kampfspiel ist. Ich will damit nicht sagen, dass die Nationalspieler nicht kämpfen. Aber sie tun es in einem anderen Maße.

Es gab zu viele Grüppchen.

Jens Nowotny zu den beiden EM-Blamagen 2000 und 2004

Sie waren selbst Spieler in Jahren der DFB-Krise, standen bei den beiden EM-Ausscheiden 2000 und 2004 im Kader.

Damals haben wir eigentlich genau mit diesem Kampf-Mindset zwei Grotten-Turniere gespielt. Wir haben es damals aber nicht verstanden, als Mannschaft auf dem Platz zu stehen. Es gab zu viele Eigeninteressen, zu viele Grüppchen, die nicht fokussiert auf den gemeinsamen Erfolg waren.

2006 waren Sie dafür Teil des Sommermärchens, kamen aber nur im Spiel um Platz 3 zum Einsatz.

Das war der eine Moment in meiner Karriere, den ich über alles stellen würde: Nach dem Spiel um Platz 3 in Stuttgart bin ich mit Oli Kahn die Ehrenrunde gelaufen. Es gingen Feuerwerke hoch, alles krachte, es war wahnsinnig laut - und ich sehe unter diesen 50.000 Zuschauern auf der Tribüne zufällig meinen Sohn auf dem Arm meines Vaters. Und er schläft einfach. Das beinhaltete alles.

WM 2006, SPIEL UM PLATZ 3

Vor Ihrer Trainertätigkeit waren Sie Spielberater. Wollen Sie irgendwann nochmal etwas anderes machen?

Ich bin zu kurz drin, um müde zu sein. Ich bin seit zweieinhalb Jahren Trainer, habe U 18 und U 19 machen dürfen, jetzt U 15 und U 17 und jetzt kommt wieder ein neuer Zyklus. Das ist wahnsinnig spannend. Und beim DFB kommt durch das große Netzwerk ja so viel zusammen: Schlafforschung, Roboter, neue Trainingsmethoden, das interessiert mich. Wenn es nach mir geht, mache ich den Job bis zur Rente.

Wie hat sich das Anforderungsprofil an einen Innenverteidiger im Vergleich zu Ihrer aktiven Zeit verändert?

Leider in die falsche Richtung, weil die Prioritäten falsch gesetzt werden. Viele Innenverteidiger haben heute eine überragende Passquote und eine mittelmäßige Zweikampfquote. Da stimmt für mich die Gewichtung nicht.

Sie selbst begannen ihre Karriere als Libero und wurden dann Innenverteidiger.

Ja, von heute auf morgen. Als ich nach Leverkusen kam, spielten wir unter Christoph Daum mit Libero. Vor einem Spiel gegen Kaiserslautern hatten wir uns über die Libero-Position unterhalten und plötzlich fragte Daum: 'Wie wollen wir eigentlich am Wochenende spielen?' Dann kamen wir drauf: Am besten Mann gegen Mann, dann haben wir einen mehr im Mittelfeld. Wir hatten aber in unserem ersten Trainingslager auch nur Zweikämpfe geübt, da hat es ordentlich auf die Hölzer gegeben. Dadurch waren wir sehr schnell in der Lage, uns umzustellen.

Jens Nowotny (re.) mit kicker-Redakteur Michael Bächle

Treffen auf dem DFB-Campus in Frankfurt: Jens Nowotny (re.) mit kicker-Redakteur Michael Bächle. kicker

War Daum der beste Trainer Ihrer Karriere?

Definitiv. Er hat es geschafft, alle Spieler auf ein anderes Level zu heben mit seiner Akribie. Was ich aus dieser Zeit alles mitgenommen habe, ist Wahnsinn. In erster Linie weiß ich seitdem: Es ist sehr viel möglich, wenn du einen Plan hast. Er war unglaublich innovativ, seiner Zeit voraus. Es ging aber auch nur im Zusammenspiel mit seinem Co-Trainer Roland Koch, der eher der Herzmensch war …

… und Daum der knallharte Kopfmensch?

Er hat zu mir gesagt: 'Du bist mein Kapitän, du spielst immer. Aber wenn es schief geht, ist dein Kopf der erste, der rollt.' Da war ich 22. In der Schlussphase eines Spiels gegen Dortmund habe ich mal Jörg Reeb die Anweisung gegeben, Manndeckung zu spielen. Danach kam Daum zu mir und sagte: 'Ich habe genau gesehen, was du gemacht hast. Wenn es nicht geklappt hätte, hätte ich dich rasiert.' Und dann gab es noch eine andere Situation.

Erzählen Sie.

Als ich mal verletzt war, lag ich auf der Massagebank. Daum kam rein, fragte unseren Physio, welche Spieler fit sind - und ging wieder raus, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Am nächsten Tag erklärte er mir dann: 'Wenn du verletzt bist, kann ich nichts mit dir anfangen. Ende.'

Und Sie mussten sich in Ihrer Karriere bekanntlich durch viele Verletzungen schleppen.

Unter Klaus Toppmöller spielten wir 2001 in der Champions League in Barcelona. Ich war angeschlagen und Toppi fragte, ob ich spielen kann. Ich sagte: Es geht nicht, ich habe bei jeder Bewegung Schmerzen. Er bohrte nochmal nach und ich sagte wieder: Trainer, es geht nicht. Dann wollte er eine Prozentzahl wissen, bei der ich bin. Vielleicht 20, habe ich gesagt. Und er: 'Das reicht.'

CHAMPIONS LEAGUE 2001/2002

Und Sie haben gespielt.

Ich habe immer gespielt, wenn der Staff der Meinung war, dass ich spielen kann. In Freiburg hatte ich einmal ab der 70. Minute unbeschreibliche Schmerzen im kleinen Zeh, weil die Spritze nachgelassen hat. Mir sind auf dem Platz vor Schmerz die Tränen gekommen. Selbst in der Traditionsmannschaft spiele ich, wenn der Trainer meint, dass ich helfen kann.

Mit acht Platzverweisen halten Sie noch immer - geteilt mit Luiz Gustavo - einen Bundesliga-Rekord.

Darauf werde ich noch oft angesprochen - und wenn nicht, tue ich es selbst (lacht). Bei der Abreise zur U-17-WM kam Noah Darvich am Flughafen zu mir und meinte: "Wir haben dich gerade gegoogelt, was war denn los?" Aber selbst eine Rote Karte in der Bundesliga ist ja mehr, als viele Fußballspieler erreichen. Und der Wolfsburger Lacroix (hat zuletzt seinen fünften Platzverweis kassiert, d.Red.) kommt mir mit großen Schritten näher.

Dann wünschen Sie sich zum Geburtstag, dass er noch lange in der Bundesliga bleibt?

Nein, ich hoffe, dass ich den Titel behalte. Es ist ja der einzige, den ich in Deutschland habe (lacht).

Interview: Michael Bächle

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