Mehr Sport

"Le Mans - mein zweites Zuhause"

Interview mit Dr. Wolfgang Ullrich

"Le Mans - mein zweites Zuhause"

Intensives Gespräch: Dr. Wolfgang Ulrich (l.) und kicker-Redakteur Stefan Bomhard.

Intensives Gespräch: Dr. Wolfgang Ulrich (l.) und kicker-Redakteur Stefan Bomhard. privat

Unter seiner Führung gewann der Nobelhersteller das Rennen zwischen 1998 und 2016 insgesamt 13-mal, hinzu kommt der 2003 errungene Sieg an der Spitze des Bentley-Teams. Ab diesem Jahr ist der promovierte Ingenieur in offizieller Funktion Berater des ausrichtenden Automobile Club de l’Ouest (ACO). Das diesjährige Rennen wird am Samstag um 15 Uhr gestartet.

kicker: Rund ein Jahr Ihres Lebens dürften Sie allein in Le Mans verbracht und in unzähligen Interviews nahezu alle Fragen zum Thema schon beantwortet haben. Fangen wir deshalb mit einer Frage an, die Ihnen vermutlich noch nicht gestellt wurde. Wie oft, Herr Dr. Ullrich, haben Sie sich die imposante Kathedrale Saint-Julien du Mans von innen angeschaut?
Dr. Wolfgang Ulrich: Einmal. Einmal hab ich’s tatsächlich geschafft, allerdings nicht in einer Rennwoche, sondern bei einem Besprechungstermin. Sie steht so monumental da, und trotzdem hat man fast nie einen Blick für sie, wenn man sich in Le Mans aufhält.

kicker: Faszination Le Mans: Was sind Ihre allerersten Erinnerungen an dieses Rennen?
Ulrich: Mit meinem Interesse für den Motorsport war Le Mans natürlich immer ein fester Begriff. Ich habe es schon früh beobachtet, weil es als Einzelevent eine Besonderheit darstellt. Es war, auch für mich, schon immer das schwierigste und gefährlichste Rennen der Welt, zumindest sind über Jahre hinweg immer wieder tragische Dinge passiert. Aber wenn man 24 Stunden lang auf einer derartigen Rennstrecke so hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten fährt, dann ist mit den vielen Autos einfach die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls viel höher als in normalen Rennserien, in denen nach einer Stunde alles vorbei ist. Besonders aber ist auch, dass gerade hier das Team so viel zählt und dass es, insbesondere in den Anfangsjahren seit 1923, heroische Leistungen waren, auch körperlich, in einer Zeit, in der die Autos noch sehr schwer zu fahren waren. Beruflich hat mich dann fasziniert, ein Auto nach Le Mans zu bringen, das nicht nur schnell ist, sondern auch 24 Stunden sicher übersteht.

kicker: Ihre Begeisterung entstand also in einer Zeit, in der Helden und Heldentum noch gängige Begriffe waren?
Ulrich: In diese Richtung ging es, Rennfahrer waren wirklich noch Helden. Und dann kamen ja auch Filme, die dieses Heldentum allen, die sich damit nicht so gut auskannten, näherbrachten. Le Mans war für mich also schon immer etwas Besonderes, aber ich habe das Rennen nie besucht, bevor ich es erstmals beruflich getan habe. Ganz anders zum Beispiel die Formel 1: Zumindest Monte Carlo habe ich über viele, viele Jahre vor Ort besucht.

kicker: Wie hat sich Ihre erste Reise nach Le Mans abgespielt. Mit welcher Einstellung fuhren Sie hin, mit welchen Erkenntnissen kamen Sie zurück?
Ulrich: Ich kannte ja Fotos. Aber als ich 1998 erstmals dorthin kam, war ich erdrückt von der Größe, die alles dort hatte: diese riesige Haupttribüne, das riesige Fahrerlager - alles riesengroß, aber nicht einladend. Sich hier zurechtzufinden, ist nicht so einfach, das spürte ich. Ich habe schnell gemerkt, dass man mit den Leuten Französisch sprechen muss, sonst wird’s nichts. Und ohne Zuschauer, bei Tests oder Vorabbesuchen etwa, wirkt alles abweisend. Mein erster Eindruck war: Wenn du hier eine ganze Woche bleiben musst, wird das nicht so einfach.

kicker: Und wenn das Rennen Tag für näher kommt...
Ulrich:...dann sind da plötzlich überall Leute und alles ist anders. ACO-Präsident Michel Cosson hat mich nach den ersten zwei, drei Jahren gefragt, wie ich Le Mans sehe. Ich habe ihn auf die missliche Situation mit den Toiletten vor Ort hingewiesen. Er sagte, dass er das wisse, ich solle aber zur Kenntnis nehmen, dass man sich in einer ländlichen Gegend befinde und viele alte Häuser die Toilette noch im Garten hätten. Tatsächlich ist man in Le Mans auf dem Lande, und zwar richtig. Als ich 1999 aber zum ersten Mal das offizielle Wiegen der Autos am Montag in der Innenstadt miterlebt habe, da konnte ich kaum glauben, wie viele Menschen dorthin kamen. Da spürte ich, wie sehr sie sich dafür interessieren, was sie alles wissen - in dem Moment hat es an Wertigkeit für mich enorm hinzugewonnen. Eine Woche lang gibt es in dieser Stadt nur ein Thema, das Rennen. Und es kommen mit jedem Tag immer mehr Touristen, alles wird mit jeder Sekunde intensiver. Vor allem aber sind das alle pure Racefans. Für sie steht der Motorsport ganz oben, und die Mauern aus Bierflaschen zwischen den Zelten, die sind doch einfach okay, oder? Die echten Fans, die es dort gibt, die haben mich ganz stark beeindruckt.

kicker: Viele von ihnen kommen im Oldtimer nach Le Mans und schlafen tagelang neben ihrem Auto auf geschotterten, oft auch mal vom Regen durchweichten Parkplätzen.
Ulrich: Da stehen tatsächlich Werte herum, dass es einem den Vogel raushaut. Und natürlich sind die Jungs aus England mit dem alten Auto angereist, denn nach Le Mans fährt man mit dem Auto.

kicker: Als Team sitzt man dann für mehr als zwei Wochen mehr als eng aufeinander.
Ulrich: Mit mehr als 100 Leuten. Ab dem Vortest 14 Tage vor dem Rennen geht es um die letzte Vorbereitung der Autos und den Versuch, alles perfekt hinzubekommen. Gewisse Abläufe sind dann festgelegt, was wann zu machen ist. Dann aber kommen schon mal die Organisatoren und wollen von jetzt auf gleich dies und das, zum Beispiel die Autos für ein Foto, obwohl die gerade zerlegt sind.

kicker: Das bedeutet dann schnell mal Überstunden für die unter Anspannung stehende Mannschaft.
Ulrich: Über die Jahre sind wir so etwas wie eine Familie geworden. Aber am Anfang waren wir Neulinge, und Newcomer müssen immer erst einmal selbst draufkommen, worauf es ankommt. Das sagt dir niemand. Gewisse Dinge aber muss man wissen. Und wenn du was falsch machst, bekommst du Ärger, dabei hat dich niemand gewarnt. Nach zwei Jahren aber gehörst du dann schon zu denen, die fast alles wissen, und es kommen andere, die sich noch nicht auskennen.

kicker: Haben Sie auch deswegen manches anders gemacht als andere?
Ulrich: Ja, wir haben uns zum Beispiel überlegt, wie man hinter den Boxen eine Heimat für die Zeit vor Ort schafft. Deshalb hatten wir beim offiziellen Pre-Test schon immer ein Zelt vor Ort, noch nicht die späteren Hospitality-Einheiten, aber etwas sehr Ordentliches, wo man das Team gut unterbringen und verköstigen konnte. Bei den anderen sah es oft noch aus wie auf einem großen Campingplatz. Auch die Wunschbox muss man sich erkämpfen. Reinhold Joest (Chef des Einsatzteams, die Red.) hat immer gesagt: "Es gibt nur zwei gute Möglichkeiten: die ersten zwei Boxen oder die letzten." Die ersten beiden haben den Vorteil, dass sie den kürzest möglichen Weg zurück bieten, wenn was passiert. Die hinteren beiden haben den Vorteil, dass du mehr Zeit hast, dich vom Fahrer bei der Anfahrt zur Box vernünftig über den Zustand des Fahrzeugs unterrichten zu lassen. Ganz generell gilt: In Le Mans müssen viele Dinge mit beachtet werden, die man erst einmal gar nicht als so wichtig wahrnimmt.

kicker: In einem unserer Vorgespräche haben Sie Le Mans "meine ganz besondere Liebe" genannt. Wann wurde sie dazu, wann wurde aus Ehrfurcht und Faszination eine Liebe?
Ulrich: Schon recht früh, vielleicht 2000 oder 2001, hat es mich in den Bann gezogen. Bis dahin hatte man sich an Dinge, die eher mittelmäßig waren oder schlecht, zumindest gewöhnt. Und vielleicht weitere drei Jahre später hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es mein zweites Zuhause geworden war. Jetzt kanntest du dich aus, du kanntest die Leute, es ist dir auch sportlich bis dahin immer recht gut gelungen, und die persönlichen Kontakte, ganz besonders zum ACO, wurden immer enger.

Tom Kristensen (2. v. r)

Le Mans 2013: Rekordsieger Tom Kristensen (2. v. r.) feiert seinen 9. Erfolg. imago

kicker: Oft waren die Rennen deutsch-französische Auseinandersetzungen, vor allem mit Peugeot, getragen aber auch von der gemeinsamen Begeisterung für diese spezielle Variante des Motorsports. War es als deutsches Team schwer gegen die quasi Gastgeber?
Ulrich: Auch meinen Chefs habe ich immer gesagt, dass ich nicht an den Heimvorteil der Franzosen geglaubt habe. Die mussten sich genauso reinknien wie wir. Vielleicht blieben ihnen ein paar Sprachprobleme erspart. Aber sie hatten bestimmt den Nachteil, dass wir uns über die Jahre durchaus viele Sympathien erarbeitet hatten. Ich war immer überzeugt, dass alles fair abgehandelt wird.

kicker: Woraus sich spannende Rennen ergaben, packende Schlachten.
Ulrich: Weil wir beide etwas tun wollten für den Langstreckensport, weil wir wollten, dass es gut weiterläuft. Als Peugeot kam, waren wir schon fast Platzhirsche. Sie haben auf Anhieb starke Leistungen gezeigt, und unsere Leute waren von deren Arbeit wirklich beeindruckt. Man schätzte sich - also nichts von wegen: Wir sind zu Hause hier und fahren alles platt. Bei unserem ersten Duell 2008 habe ich sie noch auf dem Podium zu unserer Siegesfeier eingeladen. Irgendwann gegen zehn Uhr am Abend kamen etliche von den Peugeot-Jungs rein, und ohne dass irgendwer etwas gesagt hätte, stehen unsere Jungs alle auf und applaudieren ihren Kontrahenten. Ehrlich, die waren völlig platt. Es wurde eine unheimlich schöne Party, und am nächsten Morgen trugen viele von meinen Jungs Peugeot-Hemden und die wiederum Hemden von uns. Es war eine Art Verbrüderung der Feinde.

Die Katastrophe im Juni 1955

Die Katastrophe im Juni 1955: Rennfahrer Pierre Levegh riss 83 Menschen in den Tod und kam selbst ums Leben. imago

kicker: Feinde und Verbrüderung als Stichworte: Als der Engländer Mike Hawthorn 1955 mit seiner Jagd auf die von ihm gehassten deutschen Mercedes-Autos nicht unerheblich zum Auslösen der Katastrophe mit 84 Toten beitrug, war noch viel Hass im Spiel. Trotzdem hat vermutlich auch dieses Unglück zur Faszination Le Mans beigetragen.
Ulrich: Ich war damals knapp fünf Jahre alt, habe es wohl mitbekommen, aber nicht so wirklich, vermutlich noch nicht einmal in der Woche danach. Später wurde mir das insofern bewusst, weil es mit schuld daran war, dass es ab da in der Schweiz keine Autorennen mehr gab.

kicker: Ein Verbot, das ausgerechnet an diesem Wochenende mit dem Auftritt der Formel E in Zürich endete, nur sechs Tage vor der 86. Austragung des Le-Mans-Rennens.
Ulrich: Ich habe dieses Verbot nie wirklich verstanden. Aber egal, wer schuld war, es war erst einmal ein tragischer Unfall. Und mir war immer klar, dass Le Mans eine sehr harte Veranstaltung ist, dass man dort wirklich alles geben muss und dass du dich damit auseinandersetzen musst, in einen Unfall verwickelt zu werden. Von daher ist es enorm wichtig, dass du deine Rennfahrer in ein Auto setzt, von dem du mit gutem Gewissen sagen kannst, das Bestmögliche getan zu haben. In dieser Beziehung ist über die Jahre sehr, sehr viel passiert: Kohlefaser-Chassis statt Stahlkäfigen nur als ein Beispiel. Wenn man sich ältere in Le Mans erfolgreich gewesene Autos ansieht, dann war das eben konsequenter Leichtbau, und wenn man den Fahrer mit den Füßen vor die Vorderachse platzieren musste, damit die Gewichtsverteilung stimmte, dann hat man das eben getan. Warum? Weil das Auto ja nicht dafür gebaut worden war, dass es einen Unfall hat. Die Denkweise hat sich dann komplett geändert, zum Glück. Als Mercedes 1999...

kicker: ...das Problem hatte, dass ihr Auto gleich dreimal aufstieg, ehe man sich aus dem Rennen und in der Folge auch komplett aus Le Mans zurückzog...
Ulrich: ...haben wir sofort Versuche geplant, mit zwei Prototypen schnell hintereinander herzufahren und genau zu messen, was dabei passiert. Wir konnten uns ungefähr vorstellen, was passiert war, wollten es aber zu 100 Prozent verstehen. Ich habe dann meinen Fahrern vor jeder Veranstaltung gesagt, an welchen Punkten der Strecke sie im Windschatten nichts verloren haben. Oder nehmen wir die komischen Löcher in den Radhäusern: Sie entstanden, weil sich Autos quergestellt und Seitenluft bekommen hatten. Das haben die, die uns gefragt haben, ob wir so gerne Reifen sehen, nicht recht verstanden. Wir wollten erreichen, dass bei einem querstehenden Auto die Luft nicht im Radhaus verfängt, sondern ausströmen kann, damit das Auto nicht ausgehebelt wird.

P.S.: Herausragende Fahrer und Persönlichkeiten der Le-Mans-Geschichte, Jubeltage und Dramen: Den zweiten Teil des Exklusivgesprächs mit Dr. Wolfgang Ullrich lesen Sie in der morgigen kicker-Printausgabe

Interview: Stefan Bomhard