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Interview mit Martin Endemann von Football Supporters Europe: "Tatsächlich eine Party auf den Straßen Russlands"

Interview mit Martin Endemann von Football Supporters Europe

"Tatsächlich eine Party auf den Straßen Russlands"

Fans aus aller Herren Länder im freundschaftlichen "Ballhochhalten"-Wettbewerb auf der zentralen Einkaufsstraße Nikolskaya in Moskau.

Fans aus aller Herren Länder im freundschaftlichen "Ballhochhalten"-Wettbewerb auf der zentralen Einkaufsstraße Nikolskaya in Moskau. Jörg Jakob

Mit der Unterstützung der staatlichen Tourismusagentur und lokaler Partner folgen diese Einrichtungen, bestehend aus freiwilligen Fans und Sozialarbeitern, "ihren" Teams durch das Turnier und bieten jeweils am Spieltag und am Tag davor Informationen und Hilfestellung, zum Beispiel im Austausch mit den örtlichen Behörden, den diplomatischen Vertretungen in Russland oder den jeweiligen Verbänden. Über eine 24-Stunden-Hotline ist auch der Kontakt zu Rechtsexperten und den angereisten Polizeidelegationen gewährleistet.

Endemann (41) zieht im kicker-Interview aus seinen Erfahrungen der ersten beiden Wochen ein positives Zwischenfazit. Gleichzeitig warnt er vor zu großen Erwartungen für die Zeit nach dem Turnier in Russland und hinterfragt das Marketing des DFB.

kicker: Wie lief die WM bisher aus Ihrer persönlichen Sicht und der Sicht der Football Supporters Europe, Herr Endemann?

Martin Endemann: Sehr gut. Es ist tatsächlich eine Party auf den Straßen Russlands. Mit unglaublich vielen Fans aus aller Welt. Vor allem auch aus Süd- und Mittelamerika. Mexikaner, Peruaner, Uruguayer in Massen! Im Vergleich dazu sind es sehr wenig europäische Fans. Es gab bisher keine größeren Zwischenfälle. Kein Stress mit der Polizei oder Hooligans. Die Organisation ist größtenteils gut.

kicker: Haben Sie das so erwartet?

Endemann: Jein. Natürlich war klar, dass Russland sich zur WM aller Welt möglichst gut präsentieren wird. Aber es ist schon eine logistische Leistung, nach dem Spiel in der relativ kleinen Stadt Saransk 40.000 Menschen wieder zurück nach Moskau zu transportieren. Dass das alles nun wirklich so reibungslos klappt, haben wir nicht erwartet. Wir sind darüber hinaus etwas überrascht über dieses - ich nenne es einmal Missverhältnis - auf Fanseite, dass die Länder, die doch am dichtesten an Russland dran sind, am wenigsten vertreten sind oder waren, wie England oder Deutschland.

( Lesen Sie hierzu auch das Interview mit Kevin Miles, Geschäftsführer der Football Supporters' Federation. )

Als Fan fragt man sich: Ist das eine Fußballmannschaft oder ist das nur noch ein Werbeprodukt?

Martin Endemann

kicker: Was sind die Gründe dafür? Persönliche Ängste oder die politische Situation?

Endemann: Nein. Es ist schon sehr auffällig, dass im größten Stadion der WM, im Moskauer Luschniki-Stadion, nur 5.000 deutsche Fans mit dabei waren. In Sotschi waren es 8.000. Das hat zum einen wie in England etwas mit der Medienhysterie zu tun, mit der zuvor auch Ängste geschürt wurden. Es hat sicherlich aber auch damit zu tun, wie in Deutschland die Ticketvergabe ist. Dass man über den "Fanclub Deutsche Nationalmannschaft, powered bei Coca Cola" gehen muss. Dass viele der traditionellen Fans, die sonst auf Tour gegangen sind, nicht unbedingt Lust haben auf diese Zwangsmitgliedschaft. Natürlich kommt auch diese ganze - ich nenne es jetzt einmal - Überhöhung um die Nationalmannschaft mit dem komischen Hashtag #zsmmn nicht bei jedem gut an. Da denkt man als Fan: Was ist das eigentlich? Ist das eine Fußballmannschaft oder ist das nur noch ein Werbeprodukt? Das hat tatsächlich eine Rolle gespielt. Der DFB muss sich durchaus noch einmal Gedanken machen, wie er das in Zukunft löst.

kicker: Auf wen sollte der DFB dabei hören?

Endemann: Unsere Kollegen von der Koordinationsstelle Fanprojekte können das am besten einschätzen, da sie bei jedem Deutschland-Spiel in diesen Tagen in den Städten waren und mit den Leuten geredet haben.

Er ist Senior Project Manager bei Football Supporters Europe: Martin Endemann im kicker-Interview.

Er ist Senior Project Manager bei Football Supporters Europe: Martin Endemann im kicker-Interview. Martin Endemann

kicker: Wie finden Sie die Stimmung insgesamt in Russland im Vergleich zu anderen Europa- oder Weltmeisterschaften?

Endemann: Auf der zentralen Einkaufsstraße Nikolskaya in Moskau steigt zum Beispiel jeden Abend eine riesige Party. Es ist eigentlich illegal, auf der Straße Bier zu trinken. Genauso, wie es illegal ist, Bier nach 23 Uhr zu verkaufen. Trotzdem sieht man überall Bierverkäufer und die Polizei steht daneben. Es ist ganz klar, dass die Polizei es zumindest in Moskau lieber hat, dass sich alle an einem zentralen Ort sammeln. Dort hat sie alles besser im Blick. Aber so ist es auch für die Russen ein Erlebnis. Ich war in einigen Städten, die keine klassischen touristischen Ziele sind, wie Saransk, Rostow oder Wolgograd. Auch dort sind die bunten Feste der vielen süd- und mittelamerikanischen Fans für viele Russen ein Erlebnis.

kicker: Ein prägendes oder ein flüchtiges Erlebnis?

Endemann: Die Kehrseite der Medaille ist natürlich: Russland bleibt weiterhin ein autoritärer Staat. Es wird sich wahrscheinlich nichts an der politischen Situation, an der Situation für die Opposition, der Lage für die Schwulen und Lesben in Russland ändern. Aber vielleicht ändert sich ja etwas an der gesamtgesellschaftlichen Einstellung, dass viele Russen nach der Weltmeisterschaft anfangen werden, Fragen zu stellen. Warum dürfen die denn eigentlich die ganze Nacht Party machen? Warum dürfen die mit ihren Fahnen auf dem Roten Platz stehen? Wir werden verhaftet, wenn wir in einer Menschenansammlung mit einem Plakat auf den Roten Platz gehen. Ich glaube, dass bei vielen eine Art Depression einsetzt, wenn die Party in zwei Wochen wieder vorbei ist.

Sie hätten niemals gedacht, dass in Russland mal jemand mit einer Regenbogenfahne ins Stadion gehen kann.

Endemann

kicker: Haben Sie persönlich erlebt, dass etwa die politische Situation und Menschenrechte thematisiert werden?

Endemann: Mitglieder des schwul-lesbischen England-Fanclubs "Three Lions Pride" gingen mit ihrer Regenbogenfahne zum Spiel gegen Tunesien in Wolgograd. Sie erhalten sehr viel Support von den englischen Fans, teilweise auch von russischen Fans, von denen mir einige berichteten, sie hätten niemals gedacht, dass in Russland mal jemand mit einer Regenbogenfahne ins Stadion gehen kann. Aber nach der WM wird das wieder ganz anders aussehen. Ich war auch mit mehreren Frauen aus dem Iran unterwegs, die vor und im Stadion demonstriert haben für ihr Recht, auch im Iran Spiele im Stadion zu sehen. Es gibt also kleine Protestaktionen rund um die Spiele, aber wir sind natürlich sehr skeptisch, dass eine Nachhaltigkeit in solchen Themen eintritt.

kicker: Wie ist Ihre Erwartung für den zweiten Teil der WM?

Endemann: Ich denke, es läuft alles genau so weiter. Leider sind einige Mannschaften mit großem Anhang, wie Peru, nicht mehr im Wettbewerb. Es ist übrigens sehr auffällig, dass viele Mitgereiste nicht nur ihre eigenen Nationalmannschaften ansehen, sondern auch die anderen. In den Nachtzügen treffen sich Menschen aus bis zu 80 verschiedenen Nationen.

kicker: Deutschland ist ausgeschieden. Ohne besondere Vorkommnisse im Publikum?

Endemann: Es war relativ ruhig. Aber es gab einige Fälle, in denen die Fan-ID kurz vor dem geplanten Abflug formlos per E-Mail oder SMS zurückgezogen wurde. Offenbar wurden Datensätze aus der höchst umstrittenen Datei "Gewalttäter Sport" mit russischen Behörden ausgetauscht, was natürlich ein sehr zweifelhaftes Vorgehen ist, weil offenbar auch Personen betroffen waren, die noch nicht durch Gewalttaten aufgefallen sind. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, wie einzelne, deutschlandweit bekannte Hooligans nach Russland einreisen konnten. Wir werden auf politischer Ebene nachhaken.

Das Interview führte Jörg Jakob