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Newcastle United im Koma: Ein Lehrstück aus der Premier League

Wie Newcastle United seine Fans in den Wahnsinn treibt

Elstern im Koma: Ein Lehrstück aus der Premier League

Newcastle, der gelähmte Klub: Mike Ashley (l.) wollte ihn schon dreimal verkaufen, ist aber immer noch da.

Newcastle, der gelähmte Klub: Mike Ashley (l.) wollte ihn schon dreimal verkaufen, ist aber immer noch da. imago/picture alliance (2)

In Newcastle ist es so, als habe es den milliardenschweren TV-Vertrag der Premier League nie gegeben. Der teuerste Transfer der Vereinsgeschichte ist 13 Jahre her, der zweitteuerste 22. Die Spieler hießen Michael Owen und Alan Shearer. Und trotzdem hält sich Newcastle United wacker in der reichsten Liga der Welt.

So weit ist es also gekommen: Ein Klub steht jahrelang exemplarisch für die Auswüchse des modernen Fußballs, und die Folgen klingen richtig romantisch.

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Benitez

Benitez Rafael

Newcastle United - Vereinsdaten
Newcastle United

Gründungsdatum

01.01.1892

Vereinsfarben

Schwarz-Weiß

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Newcastle United kann man sich ein klein wenig vorstellen wie den HSV: vor langer Zeit mal Meister und Europapokalsieger, bis heute eine enorme, emotionale Fanbasis, seit Jahren aber nur noch verspotteter schlafender Riese. Wobei der zuletzt nicht mehr schlief, sondern im Koma lag, wie es ein Fan der "Elstern" unlängst im "Guardian" ausdrückte. Früher träumten er und all die anderen von der Champions oder zumindest der Europa League, heute wollen sie nur noch eines Tages aufwachen und ihren Klub in anderen Händen sehen, in anderen als in Mike Ashleys.

Anfangs mochten die Fans diesen Verrückten - war er nicht einer von ihnen?

Ashley, mit seinem Sportartikel-Handelsunternehmen "Sports Direct" zum Milliardär geworden, ist seit Juni 2007 Besitzer von United, man könnte auch sagen: Er hat United seitdem in der Mangel. Dabei war doch alles so schön losgegangen: Der damals 42-Jährige traf sich mit Fans im Pub, saß im Trikot auf der Tribüne und trank dort sogar einmal mit anderen "Magpies" ein Bier, was in England verboten ist. United behauptete damals, das Getränk, nicht-alkoholisch natürlich, sei ihm in die Hand gedrückt worden. Viele Fans mochten diesen Verrückten aus den West Midlands, irgendwie war er einer von ihnen, auch wenn sein Kontostand etwas anderes sagte. Und liebte er den NUFC nicht fast genauso wie sie?

Elf Jahre später und rund eine Woche vor dem Start der neuen Premier-League-Saison vermeldet Trainer Rafa Benitez Dinge wie: "Alles" laufe abseits des Rasens gerade falsch. Er habe "keine Ahnung", ob er noch Spieler verpflichten dürfe. "Die Fans sollten sich Sorgen machen. Ich mache mir große Sorgen." Gerade hatte Newcastle, im Vorjahr als Aufsteiger Zehnter geworden, ein Testspiel gegen Sporting Braga mit 0:4 verloren. Kein Neuzugang spielte mit.

Um Muto aus Mainz zu holen, musste Benitez erst Spieler verkaufen

In Zeiten, in denen Huddersfield Town 20 Millionen Euro für Terence Kongolo, einen Innenverteidiger aus Monaco, ausgibt, in denen die pure Anwesenheit in der Premier League reicht, um, wie Newcastle 2017/18, fast 150 Millionen Euro zu kassieren, hat Newcastle ein Transferplus von knapp 20 Millionen Euro vorzuweisen. Damit Benitez Yoshinori Muto aus Mainz holen konnte , musste er erst Spieler verkaufen; die anderen der wenigen Neuen wie der Ex-Hoffenheimer Fabian Schär kosteten fast oder überhaupt nichts. Wie kann das sein bei einem englischen Erstligisten, einem der umsatzstärksten Klubs der Welt?

Zurück ins Jahr 2008, als Ashley öffentlich Bier trank. Weil der geliebte Trainer Kevin Keegan einen Tag nach Ende des Sommer-Transferfensters erfahren musste, dass seine Vorgesetzten mit Ashley an der Spitze heimlich einige seiner Spieler zum Verkauf angeboten hatten, trat er erbost zurück. Die Fans protestierten, forderten erstmals Ashleys Aus. Und der versuchte erstmals, den Klub zu verkaufen, gut ein Jahr nach der Übernahme, bei der er angeblich erst realisiert hatte, dass Newcastle verschuldet war. Offiziell bereute er seinen Einstieg, bezeichnete ihn als "Katastrophe für alle", sein Geld sei verloren. Doch genau wie 2009 und 2017 fand sich kein Interessent, der seine Forderungen, inzwischen mindestens 450 Millionen Euro, erfüllen wollte.

Ashley hat ihnen genommen, was sie lieben, und die Regeln haben keine Einwände

Rafael Benitez

Trotz allem: Trainer Rafael Benitez, früher in Liverpool und Madrid, hat sich in Newcastle verliebt. picture alliance

Und solange das so ist, bleibt er eben. Um seine Millionen halbwegs zu retten, investiert er seit Jahren nur noch so viel, wie gerade nötig ist, um Newcastle in der lukrativen Premier League zu halten. Platz 6 oder 16 - ihm egal. 2016 stieg Newcastle nach einer chaotischen Saison vor allem deswegen ab, weil Ashley Verstärkungen erst zugestimmt hatte, als es schon zu spät war. Die Mittel wären wie bei jedem Mitglied dieser Liga vorhanden gewesen.

Und so kommt es, dass ein einziger Mann einen Verein, der selbst im Zweitligajahr im Schnitt vor mehr als 50.000 Zuschauern spielte, seit einem Jahrzehnt lähmt, den Riesen nicht aufweckte, sondern ausknockte und die Fans in den Wahnsinn treibt. Sie sehen, was mit diesem Klub, mit diesem Trainer möglich wäre, doch der einzige, der ihre Visionen in die Tat umsetzen könnte, winkt ab. Er hat ihnen genommen, was sie lieben, und die Spielregeln in England haben keine Einwände. Was ist eigentlich, wenn ein Investor bei der Jagd nach den eigenen Interessen die des Klubs vergisst, ja, sie sogar bewusst vernachlässigt? Newcastle-Fans wissen es jetzt.

Benitez könnte jederzeit gehen, viele Fans würden sich inzwischen anschließen

"Die Leute müssen verstehen, dass wir nicht den Spieler holen werden, der ganz oben auf unserer Wunschliste steht. Auch nicht den an zweiter oder dritter Stelle", kritisiert Benitez Ashleys Politik inzwischen ganz offen. Er kann sich das erlauben: Er hat Newcastle zurück in die Premier League geführt, dort wider alle Widrigkeiten beeindruckend souverän gehalten; er könnte jederzeit einfach zurücktreten und hätte wohl binnen Tagen einen neuen Job, sein Arbeitspapier endet 2019. Den neuen Fünfjahresvertrag, den Ashley ihm angeboten hat, will er erst unterschreiben, wenn dieser Investitionen in den Nachwuchs und das Trainingsgelände zusagt, und er weiß dabei alle Fans auf seiner Seite.

Es sieht ganz danach aus, als steuere Newcastle auf die größte Zerreißprobe der Ashley-Ära zu. Auf dem Rasen droht zu Saisonbeginn Ungemach (die Generalprobe: ein 0:1 gegen Augsburg) , daneben aber erst recht - ein aktueller Prämienstreit passt zum komatösen Zustand.

"Wenn Benitez geht", sagen viele Anhänger inzwischen verzweifelt, "gehen wir auch!" Sie werden es nach mehr als zehn Jahren selbst wissen: Ashley könnte damit leben.

Jörn Petersen

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