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Uruguays Ghiggia: Die Flamme des Maracanazo ist erloschen

Finaltorschütze der WM 1950 verstarb an Herzinfarkt

Uruguays Ghiggia: Die Flamme des Maracanazo ist erloschen

Uruguays Alcides Ghiggia brachte das Maracana mit dem Siegtor im WM-Finale 1950 zum Schweigen.

Uruguays Alcides Ghiggia brachte das Maracana mit dem Siegtor im WM-Finale 1950 zum Schweigen. picture alliance

"Manchmal lodert eine Flamme auf, innerlich", hat Don Alcides vor einem Jahr während der WM in Brasilien dem kicker gesagt. Es war gar nicht so melancholisch gemeint, wie es heute im Bewusstsein des Todes von Alcides Ghiggia vielleicht klingt. Ghiggia war damals 87 und hatte sich im Gespräch mit diesem Autor an sein größtes Spiel erinnert, er tat das mit fester Stimme und ohne große Nostalgie, dazu liebte er das Leben viel zu sehr, das ihm ja auch im hohen Alter noch eine um vier Jahrzehnte jüngere Frau geschenkt hatte.

Don Alcides also erinnerte sich an das entscheidende WM-Spiel 1950 im Maracana von Rio de Janeiro. 2:1 gewann Uruguay an jenem 16. Juli dank einer Vorlage und einem Treffer von Ghiggia - und riss damit WM-Gastgeber Brasilien in ein Tal der Tränen. Legendär wurde sein Spruch aus jüngerer Zeit: "Nur drei Personen haben das Maracana zum Schweigen gebracht: der Papst, Frank Sinatra und ich."

Ghiggia gelang das 1950 mit seinem Tor in der 79. Minute zum Sieg, zumindest in Uruguay und Brasilien wird man ihn daher nie vergessen. Über rechts war er gekommen. Ghiggia schilderte das 2014 so: "Torwart Barbosa wartete wohl wie beim 1:1 zuvor durch Schiaffino auf eine Hereingabe von mir." Doch dann schoss er einfach - ins Tor und sich mit nur 23 Jahren in die Geschichtsbücher. Wahlweise als Held oder Zerstörer von Träumen. "Es war eine komische Atmosphäre, die Leute weinten und waren so entsetzt, das ich mich fast schuldig fühlte." Knapp 200.000 Zuschauer im Maracana waren teils zu Tode entsetzt, mehr Zuschauer erhielten nur Jahrzehnte später bei einem Konzert der Rockband Kiss Eintritt in das legendäre Rund: 250.000.

Schöpfer des weltberühmten 'Maracanazo'

Doch Ghiggias Paukenschlag ist nicht etwa als "Todes-Kuss" in die Fußball-Historie eingegangen, sondern als "Maracanaço" in der brasilianisch-portugiesischen und "Maracanazo" in der uruguayisch-spanischen Schreibweise. Zugleich ist er ein Markstein: Uruguay, der erste Weltmeister von 1930, die einstig führende Macht in der Frühzeit des Fußballs, holte dank Ghiggia durch den "Maracanazo" seinen zweiten und letzten WM-Titel. Seither kam das kleine Land nie mehr an vergangene Fußball-Größe heran, zehrt noch heute von seiner glorreichen Vergangenheit. Und Brasilien? Stellte sich nach dem Schock des "Maracanaço" neu auf und regierte von 1958 an die Fußball-Welt auf Jahre hinaus.

Das Siegtor: Alcides Ghiggia (#7) dreht jubelt ab - und versetzt ganz Brasilien in Schockstarre.

Das Siegtor: Alcides Ghiggia (#7) dreht jubelt ab - und versetzt ganz Brasilien in Schockstarre. picture alliance

"Es scheint, dass Brasilien mir verzieh, aber Barbosa nicht", sagte denn auch Ghiggia. Der Keeper der Seleçao, der den Treffer nicht verhindern konnte, wurde seines Lebens nicht mehr froh, viele Jahre später verbrannte er sogar die Holzpfosten des Maracana, auf dass nichts mehr an die Niederlage erinnere. "Ich bekam das alles mit, aber was sollte ich machen?", so der Weltmeister von 1950 und ehemalige Star von Penarol Montevideo.

"Meine Farbe bleibt die 'Celeste'"

Er ging dann selbst weit weg, für zehn Jahre nach Italien, spielte bei der Roma und kurz bei Milan. In Erinnerung blieben ihm, wie er in einem anderen kicker-Interview einmal erzählte, aus damaliger Zeit vor allem "tolle Autos, Alfa Romeo, ich liebte sie. Da gewöhnte ich mir das schnelle Fahren an." In Italien wurde der am 22. Dezember 1926 geborene, nur 1,69 Meter große Offensivspieler mit dem Schnauzbart zum Lebemann, sogar für die Squadra Azzurra machte er eine Handvoll Spiele. Aber, so betonte Ghiggia mit Blick auf Uruguays Nationaldress: "Meine Farbe blieb Celeste".

Nach seiner Karriere arbeitete er im Kasino von Montevideo, lebte von einer knappen Weltmeister-Rente und einem kleinen Geschäft, das seine junge Frau betrieb. Manche seiner Auszeichnungen verkaufte er – auch für Interviews verlangte er vielfach und teils viel Geld, jedoch nie vom kicker und diesem Autor.

So lebte er eben zurückgezogen in Raum Montevideo - und ließ sich dennoch den Spaß am Leben nicht nehmen: "Ich bin seit 40 Jahren nicht mehr jung, aber ich bin zufrieden, klagen bringt ja nichts. Und manchmal sitze ich auch in einem Cafe, und dann kommt jemand und spricht mich an. Das ist schön."

Auch dass Uruguay in den letzten Jahren mit Platz vier bei der WM 2010 und dem Sieg 2011 bei der Copa America auflebte und mit Diego Forlan, Luis Suarez oder Edinson Cavani neue (Super-)Stars hervorbrachte, goutierte der Altstar nur allzu gerne: "Ich bin stolz auf diese Jungs." Doch dass der neue Topstar Suarez in den vergangenen Jahren oft mit Unsportlichkeiten auf dem Platz für Furore sorgte, das akzeptierte Ghiggia dann doch nicht: "Es stimmt was nicht mit ihm."

Ghiggia: Das neue Maracana "ist nicht mehr mein Stadion"

Viel lieber also nochmal der Blick zurück auf 1950: "Auch Obdulio (Varela, der Kapitän, d. Red.) und all die anderen waren Helden." Mit dem zur WM 2014 renovierten, verkleinerten Maracana indes wollte Ghiggia nicht warm werden. "Das ist nicht mehr mein Stadion", bedauerte er. Dass Deutschland 2014 in Belo Horizonte Brasilien bereits ebenso legendär mit 7:1 aus dem Stadion schoss wie 1950 Ghiggia die Selecao aus dem Maracana, nahm er sportlich. Auf die Frage, ob das 7:1 seiner Herkulestat 64 Jahre zuvor Ruhm abgrabe, antwortete er gelassen: "Was ist schon für ewig?"

2013 verstarb mit Uruguays Ersatzkeeper Anibal Paz der letzte der Kollegen von 1950. "Es ist ein komisches Gefühl", sagte Ghiggia und vermied bewusst das Wort traurig. Schließlich habe man sich auch in den Jahrzehnten zuvor nicht mehr oft gesehen. Das Leben, es ging eben einfach weiter. Auch 2012, als er einen schweren Verkehrsunfall überlebte. Ein Lastwagen hatte ihm da die Vorfahrt geraubt. Der Fahrer war verurteilt worden, als er freikam starb er bei einem anderen Unfall. "Schrecklich, ich habe Glück gehabt."

Am Donnerstag, in der Nacht auf Freitag, genau 65 Jahre nach dem "Maracanazo" ist Alcides Ghiggia mit 88 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Im Weltmeister von 1950 mag die Flamme nun erloschen sein. In Brasilien und Uruguay lodert sie jedoch weiter: als Zeichen steten Schmerzes hier, als ewiges Licht der Verehrung dort.

Jörg Wolfrum