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Der Retortenklub

kicker-Reportagereihe "Football Britannia", Teil 3: Milton Keynes Dons FC

Der Retortenklub

Eine Partie des Milton Keynes Dons FC (weiße Trikots) im heimischen Stadion findet nicht allzu viel Zuspruch bei den Fans.

Eine Partie des Milton Keynes Dons FC (weiße Trikots) im heimischen Stadion findet nicht allzu viel Zuspruch bei den Fans. Stuart Ray Clakre

Wenn das mal keine fette Porti­on Selbstironie ist: "You've got no history", sticheln die Fans von Stevenage Borough im Aus­wärtsblock des "stadiummk" (ja, so schreibt sich das im Original). Stevenage ist wie die Gastgeber­stadt erst nach dem Zweiten Welt­krieg entstanden. Aber die Spöttelei drückt treffend aus, was große Teile im englischen Fußball über die Mil­ton Keynes Dons immer noch den­ken: ein Verein ohne Geschichte.

Anhänger eines bestimmten Fußballklubs zu werden basiert in England vorwiegend auf Familien­tradition. Für wen du bist, entschei­det schon dein Urgroßvater. Natür­lich gibt es Ausnahmen: Die Welle der Trauer und des Mitgefühls nach dem Flugzeugunglück von Mün­chen 1958 und dem Verlust der Bus­by Babes etwa verschaffte Manches­ter United den größten Anhang des Landes schon lange bevor die "Red Devils" Premier-League-Titel sam­melten. Ebenso löst der moderne Fußball mit seinen globalen Live­-Übertragungen und internationalen Superstars traditionelle Strukturen ab.

Doch unabhängig davon, wo du lebst und für welches Team du bist, ist es doch auch heute noch so: Jeder Klub hat seine Historie. Einen Pokalsieg hier, einen Aufstieg dort. Und genau das ist von Anfang an das Problem der MK Dons, mal ganz abgesehen von dem bösen Blut bei ihrer Entstehung.

Die Medien nannten MK Dons "Franchise FC"

Milton Keynes entstand vor nicht einmal 50 Jahren auf dem Reißbrett, als ein nördlicher Trabant Londons. Von allen "New Towns" im Eng­land des 20. Jahrhunderts wuchs sie am schnellsten, wurde weitaus größer als alle anderen, inklusive Stevenage. Aber egal, wie rasant sie sich entwickelte, sie hatte keinen Profiklub, und das englische Py­ramidensystem mit den vier Spiel­klassen der Football League und den Amateuren darunter machte es auch nicht leicht, rasch zu einem zu kommen.

Die kicker-Serie "Football Britannia"

In den späten Sechzigern soll­ten Fernseh-Spots junge Familien anlocken. Der Slogan lautete: "Ein neues Zuhause in Milton Keynes, ein neues Leben in Milton Keynes." Diese Sätze erwiesen sich 2002 über Nacht als prophetisch, als eine dreiköpfige Kommission der FA dem Umzug des Wimbledon FC in die Retortenstadt zustimmte. Das Ergebnis war die Gründung des AFC Wimbledon und, zwei Jahre später, die Geburt der MK Dons. Nach der Übernahme des in die In­solvenz gegangenen Wimbledon FC (Spitzname "Dons") durch den Musikunternehmer Pete Winkelman war die Namensänderung wohl unvermeidlich. Sie bedeutete al­lerdings, dass der englische Fußball einen seiner größten Favoritenkiller (und FA-Cup-Gewinner von 1988) verlor und die neue Stadt plötzlich einen Klub in der Football League hatte - ohne dass es eines sportli­chen Aufstiegs bedurfte.

"Wir sind zwar nicht stolz darauf, wie der Klub entstanden ist, aber wir sind extrem stolz auf das, was wir seitdem erreicht und für Milton Keynes geleistet ha­ben."

Klubeigner Pete Winkelman

Die Empörung war groß - die Presse nannte die MK Dons "Franchise FC", ein Prädikat, das an die Gebaren im US-Profisport erin­nerte und schnell die Runde mach­te in den Fanzines und Stadien Bri­tanniens. Die Football Supporters Federation, der Dachverband der Fanclubs, ignorierte den Retor­tenklub bis 2007, als die MK Dons schließlich alle Titel und Trophäen, die der Wimbledon FC gewonnen hatte, in dessen Londoner Bezirk Merton zurückgaben. Im selben Jahr eröffnete Queen Elizabeth II die neue Arena von Milton Keynes, das "stadiummk". Bis dahin hatte der junge Klub seinen Fußball im National Hockey Stadium spielen müssen. Der Weg zur Anerkennung im 92er-Klub der Football-League-Angehö­rigen war mühsam.

WM-Bewerbung als Meilenstein

"Uns wird immer ein Stück Ärger und Schmerz beglei­ten", sagt Pete Winkelman, der Vorstandsvorsitzende, dem kicker. "Wir sind zwar nicht stolz darauf, wie der Klub entstanden ist, aber wir sind extrem stolz auf das, was wir seitdem erreicht und für Milton Keynes geleistet ha­ben." Was Winkelman Milton Keynes gebracht hat, ist eine beeindruckende Arena mit einer Kapazität von derzeit 22.000 Sitzplätzen, die zur nächsten Saison auf 32.000 erhöht wird. Die Architektur lässt zu, eines Tages einen dritten Rang draufzu­setzen. Was ein mitentscheidender Faktor dafür war, Milton Keynes bei Englands (vergeblicher) Bewerbung für die WM 2018 als Spielort vorzu­sehen. Diese Berücksichtigung in einer Reihe mit Old Trafford und Wembley war ein Meilenstein.

"Die WM-Bewerbung war nicht nur für den Verein sehr wertvoll, sondern auch für das Image von Milton Keynes", sagt Winkelman, "damit erschienen wir auf der internationalen Landkarte des Fußballs." National haben sich die MK Dons stetig entwickelt. Sie gewannen 2008 in Wembley die Johnstone's Paint Trophy, einen K.o.-Wettbewerb für Dritt- und Viertligisten, und vier Wochen später den Titel in der League Two (4. Liga).

Der wohl meistgehasste Verein Englands

Bei beiden Erfolgen war der ehemalige englische Nationalmannschaftskapitän Paul Ince Cheftrainer, der jedoch gleich darauf zu den Blackburn Ro­vers wechselte. Auf Ince folgte ein weiterer Ex-Nationalspieler, der Italiener Roberto Di Matteo. Der führte die MK Dons auf den dritten Platz der 3. Liga (League One) und in die Play-offs, ehe es ihn zu West Bromwich Al­bion zog.

Paul Ince, in Blackburn entlassen, kehrte zur Saison 2009/2010 zurück und erreich­te einen Mittelfeldrang, ehe er erneut von der Fahne ging, un­ter Berufung auf eine "Kürzung der Geldmittel". Nach zwei prominenten Trainern sorgte Winkelman für eine Überraschung, indem er Assistenz­trainer Karl Robinson beförderte. Robinson wurde somit im Alter von 29 Jahren der jüngste Teammanager in der gesamten Football League. Bereits in seiner ersten Saison, in deren erster Hälfte Didi Hamann als Co-Trainer fungierte, führte Robinson das Team wieder in die Play-offs. Erst das Elfmeterschießen im Halbfinale gegen Huddersfield Town war Endstadion.

Der Start in die laufende Saison konnte besser kaum sein: Die MK Dons schlugen Erstligist Norwich City im League Cup 3:0, belegten vorübergehend den ersten Rang in der League-One-Tabelle (die beste Platzierung seit ihrer Gründung) und stehen aktuell in den Play-off-­Rängen, die zu den Aufstiegsspielen in die 2. Liga berechtigen.

Talente auf den Sprung nach oben

Mittelfeldspieler Luke Chadwick, einst ein Hoffnungsträger von Man­chester United, trumpfte wie in früheren Tagen auf, aber eine andere Entwicklung hat den Anhängern nicht gefallen: Eigengewächs Sam Baldock (22) wurde für eine nicht genannte Summe an West Ham United verkauft. Er war ein belieb­ter Spieler, der hier 2004 als Trainee begonnen hatte und in 124 Einsät­zen 43 Tore erzielte. Fans wie Greg Poulton (17) bezweifeln, dass das ein guter Deal war: "Das kann uns den Aufstieg kosten." "Sam war ein wichtiger Spieler für uns, aber der Klub muss vor­ankommen", verteidigt Teamma­nager Robinson den Transfer. Bal­dock ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die Jugendarbeit für die Entwicklung der MK Dons auf und neben dem Rasen ist. Rechts­verteidiger Adam Chicksen (20) ist das nächste Talent, das sich aus der eigenen Jugend-Akadamie für die erste Mannschaft aufdrängt. Und der hoch gehandelte, 14 Jahre alte Seyi Ojo - ein U-16-Nationalspieler Englands - wechselte soeben für die geschätzte Ablöse von zwei Millionen Pfund zum FC Liverpool.

Das Talent des Trainers Robin­son blieb ebenfalls nicht verborgen. Der Mann mit der bescheidenen Spielerkarriere bei Amateurklubs wie Caernarfon Town, Oswestry Town, Prescot Cables und Rhyl in Wales und England wurde kürzlich mit den Cheftrainerposten von Nottingham Forest, Leicester und Portsmouth in Verbindung ge­bracht. "Ich bin hier sehr gut aufge­hoben", verkündete der Umgarnte, "wir wollen mit einem befreiten Angriffsfußball aufsteigen." Das spricht sich rum und der Zu­spruch wächst, wenn auch langsam. Der Zuschauerschnitt liegt jetzt bei 8000 pro Heimspiel. MK-Fan Poul­ton ist ein Anhänger von Manches­ter United, aber wie viele andere in der Umgebung von Milton Keynes vernachlässigt er diese Vorliebe im­mer öfter, um Profifußball in der eigenen Stadt zu erleben.

Fan-Gemeinde entwickelt sich langsam

Weibliche Fans des Milton Keynes Dons FC

Besonders bei den jüngeren Fans ist der MK Dons beliebt. Ältere gibt es aber mangels Geschichte auch kaum. Stuart Roy Clarke

Viele der älteren Zuschauer, die ihre Kinder mitbringen, teilen ihre Sympathien unter den MK Dons und einem der Londoner Top-Klubs auf. MK-Boss Winkelman selbst war als Kind ein Supporter der Wolver­hampton Wanderers. Eine über Generationen gewachsene Fan-Gemeinde gibt es nun mal nicht, hier in der Retortenstadt. Aber es ist eine ambitionierte Stadt, mit ei­nem engagierten Klub und einem zielstrebigen Präsidenten. Nach seiner Vision für die nächs­ten sieben Jahre befragt, antwor­tet Winkelman: "Bis dahin wollen wir ein etablierter Zweitligist sein, der um den Aufstieg in die Premier League spielt. Und das Stadion möchte ich bis dahin komplett fe­tiggestellt haben." Es hätte dann drei Ränge und 45.000 Sitzplätze.

"Wir sind ein richtiger Fußball­verein", sagt Greg Poulton, "andere Fans sollten uns in Ruhe lassen. Wir haben ein großartiges Stadion und spielen guten Fußball." Nicht nur er freut sich auf Samstag, 7. Januar. In der dritten FA-Cup-Runde kommt Erstligist Queens Park Rangers mit Star und Skandalnudel Joey Barton. "Ich will 16.000 im Stadion sehen", fordert MK-Trainer Robinson, "QPR wird die Sache ernst nehmen, wir aber auch." Die MK Dons haben die dritte Pokalrunde noch nie über­lebt.

Wie gerne möchten sie das endlich schaffen, als Favoritenkil­ler würden sie wieder etwas mehr geliebt, nicht nur in Milton Keynes. Man darf gespannt sein, wie eine solche Sensation ankommt. Viele Fußball-Fans in England fürchten, ihrem Klub könnte Ähnliches wi­derfahren wie einstmals Wimble­don. "You've got no history", kriegen die MK Dons daher immer wieder zu hören, mit anklagenden Finger­zeigen. Die alten Wunden heilen nur langsam.

Lance Hardy