EM

England und Marseille: Und wieder kracht es

Düstere Erinnerung an die "Schande" von 1998

England und Marseille: Und wieder kracht es

Singend und trinkfreudig präsentierten sich die England-Fans in Marseille - manche beließen es nicht dabei.

Singend und trinkfreudig präsentierten sich die England-Fans in Marseille - manche beließen es nicht dabei. picture alliance

In der Nacht wurden ein Engländer und ein Franzose festgenommen, wie es in im Laufe des Tages richtiggestellten Polizeimeldungen heißt. Krawalle am alten Hafen hatten die französischen Beamten mit dem Einsatz von Tränengas schnell erstickt. Diese Methode sei zwar ungewohnt für die Besucher von der Insel, aber in diesem Fall wirkungsvoll gewesen, sagte Kevin Miles von der Football Supporters Federation (FSF). Nach einem alkoholgetränkten Tag waren die ersten Hundertschaften Engländer vor einem Irish Pub mit Horden einheimischer Jugendlicher, darunter offenbar auch gewaltbereite Fans von Olympique Marseille, zusammengestoßen. Damit ähneln die aktuellen Bilder denen von 1998. Damals griffen Jugendliche überwiegend nordafrikanischer Abstammung das Public Viewing am Strand an, unmittelbar nachdem Alan Shearer den Führungstreffer gegen Tunesien erzielt hatte. In der Folge lieferten sich englische Hooligans mit der Polizei und einheimischen Gewaltsuchenden stundenlange, wüste Jagdszenen, die es auch in der Nacht vor dem Spiel bereits gegeben hatte.

"ISIS where are you"

Britische Zeitungen veröffentlichten nach der "Schande von Marseille" vor 18 Jahren Bilder von englischen Unruhestiftern, "damit sie bestraft werden und ihre Jobs verlieren". Was zum Teil auch eintrat. Ein Krimineller erlangte als "Schwein von Marseille" besonders traurige Berühmtheit. Provokante Gesänge ("ISIS where are you") dürften zu den neuen Krawallen beigetragen haben. Auf einigen der Banner mit St.-Georgs-Kreuzen, mit denen die Fans der "Three Lions" Fassaden schmücken, werden auch Bezüge zum Militäreinsatz in Afghanistan oder im Irak hergestellt. Es gibt jedoch keinen Beleg dafür, dass die Faustschläge und Flaschenwürfe in der Nacht zum Freitag politische Motive hatten. Fanbetreuer wie Kevin Miles, der Länderspiele seit mehr als zwei Jahrzenten begleitet und Englands früheren Premierminister Tony Blair beriet, hatten im Vorfeld bereits gewarnt, dass Marseille ein denkbar ungünstiger Austragungsort für ein englisches EM-Spiel sei. Das Team von Roy Hodgson trifft am Samstag um 21 Uhr auf Russland (LIVE! bei kicker.de). Diese Partie ist ebenso wie die Begegnung Deutschland gegen Polen am 16. Juni in St. Denis wegen möglicher Konfrontationen von Hooligans als besonderes Risikospiel eingestuft worden.

Erst nach der EM 2000 reagierte die britische Regierung

Die Ausschreitungen 1998 zählen zu den heftigsten von vielen rund um das England-Team in der Vergangenheit. Erst nachdem es 2000 bei der EM in Belgien und den Niederlanden zu weiteren aufsehenerregenden Krawallen gekommen war, vor allem vor der Partie gegen Deutschland in Charleroi, setzte die britische Regierung den "Football Disorder Act" in Kraft, der unter anderem ermöglicht, vor Länderspielen die Pässe polizeibekannter Störer vorübergehend zu kassieren. Für die EM 2016 wurden die Reisepässe von 2000 Hooligans aus England und Wales eingezogen. Für das britische Derby am kommenden Donnerstag in Lens wurde ein striktes Alkoholverbot ausgesprochen, das auch für Fernreisezüge gilt. Die EM 2004 in Portugal bedeutete einen Wendepunkt im Umgang mit den Engländern ebenso wie einen Wandel in deren Verhalten. In der jüngeren Vergangenheit ist der in den 80er Jahren auch vom Rechtsradikalismus beeinflusste Hooliganismus bei Spielen der "Three Lions" einem deutlich sympathischeren Auftreten gewichen.

Stichwort Dialog: Das Konzept von der WM 2006 gilt als vorbildlich

Als vorbildlich für den Umgang mit den Supportern von der Insel gelten die deutschen Sicherheitskräfte und deren Konzept bei der WM 2006. In Frankreich erwartet die Fans jeglicher Coleur ein eher "robuster Einsatz", wie Experten wissen. Der Leiter der deutschen Koordinationsstelle Fanprojekte, Michael Gabriel, sagte dazu bei der kicker-Talkrunde im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund vor einer Woche: "Das wird eine wahnsinnige Herausforderung für die Sicherheitsbehörden in Frankreich. Das Land befindet sich im Ausnahmezustand, da müssen sich die Behörden wappnen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass es der Sicherheit eines Turniers enorm gut tut, wenn für gastfreundliche Stimmung gesorgt wird. Diese gewisse Toleranz und ein Lösen im Dialog sind die Herausforderungen für die französischen Sicherheitsbehörden, und ich muss gestehen, dass ich etwas Bauchschmerzen haben, weil die französische Polizei anders als die deutsche im Dialog nicht so geschult ist und direkter vorgeht." Daniele Wurbs, die Sprecherin von Football Supporters Europe, berichtete: "Wir versuchen die Behörden von einer Balance zu überzeugen, gastfreundliche Bedingungen können da viel bewirken und ein Sicherheitsgefühl geben, das die Fans auch aktiv unterstützen wollen. Nichtsdestotrotz müssen sich Fans auf gewisse Einschränkungen einstellen."

Jörg Jakob/Patrick Kleinmann

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