Bundesliga

Hertha im CL-Check: Das Ziel war Klassenerhalt, aber...

Sind die Berliner bereit für die Champions League?

Hertha im CL-Check: Das Ziel war Klassenerhalt, aber...

Die beiden Spieler mit den meisten CL-Einsätzen: Salomon Kalou (li.) und Valentin Stocker (re.).

Die beiden Spieler mit den meisten CL-Einsätzen: Salomon Kalou (li.) und Valentin Stocker (re.). getty images

Erst die Pflicht, jetzt die Kür

Die Pflicht, der Klassenerhalt, ist längst erledigt – jetzt kommt die Kür. "Als Zugabe, nicht als Stress" sieht Herthas Trainer Pal Dardai das letzte Saisonviertel. "Bei uns", sagt Kapitän Fabian Lustenberger, "spricht niemand über die Champions League." Der Fast-Absteiger des Vorjahres hat sich seinen Realismus bewahrt – und will sich keinen unnötigen Druck aufbürden. Dass es Spielzeiten gibt, in denen ein Underdog dank eigener Stabilität und der Aussetzer der höher dotierten Rivalen überraschend das Champions-League-Ticket löst, weiß niemand besser als Herthas Manager Michael Preetz und Trainer Pal Dardai. Beiden waren Leistungsträger jener Hertha-Mannschaft, die – im zweiten Jahr nach dem Aufstieg 1997 – mit einer sensationell anmutenden Saison (1998/99, Platz drei) die Qualifikation für die Königsklasse schaffte und dort nach dem Weiterkommen gegen Anorthosis Famagusta in eine hochkarätig besetzte Gruppe (FC Chelsea, Galatasaray Istanbul, AC Mailand) einzog, in der Hertha abermals überraschte: mit Platz zwei. Nachdem klar war, dass Hertha auf Europa-Tournee gehen würde, sagte der damalige Bundesliga-Torschützenkönig Preetz Ende Mai 1999 den schönen, wahren Satz: "Wir sind auf einem wunderbaren Weg, aber wir wissen nicht, was uns erwartet - ich kann uns international nur schwer einschätzen." Womöglich findet er im Mai 2016 ähnliche Worte.

Personal:

Der vor der Saison für Berliner Maßstäbe optimal verstärkte Kader (Darida, Ibisevic, Weiser, Stark) besitzt einen guten Mix aus erfahrenen Cracks wie Vedad Ibisevic (31), Salomon Kalou (30), Rune Jarstein (31) oder Peter Pekarik (29), etablierten Profis im besten Alter wie Per Skjelbred (28), Fabian Lustenberger (27), Vladimir Darida (25) und jungen, aufstrebenden Profis wie John Anthony Brooks (23), Mitchell Weiser (21) und Niklas Stark (20). Die Mannschaft bündelt eine Top-Mentalität und große taktische Disziplin mit viel Fleiß und einer steilen Lernkurve. Auch wenn der Klub zum ersten Mal seit der Saison 2008/09, als die Berliner unter Lucien Favre lange um den Titel mitspielten und am Ende als Vierter knapp die Champions-League-Qualifikation verpassten, in diesen Tabellen-Gefilden mitmischt, haben gleich zwölf (!) Spieler Champions-League-Erfahrung.

Klar vorn in diesem Ranking: der Ivorer Salomon Kalou, der 2012 mit dem FC Chelsea in der Königsklasse triumphierte und für Chelsea (49 CL-Spiele/7 Tore) und den OSC Lille (5/1) auf insgesamt 54 Arbeitsnachweise in der Elite-Liga kommt. Angeführt von Valentin Stocker (19/2 für den FC Basel) kommt der aktuelle Berliner Kader in der Summe auf 130 Champions-League-Einsätze - nicht schlecht. Klar ist: Qualifiziert sich Hertha für die Champions League oder die Europa League, werden Preetz und Dardai den Kader im Sommer in der Spitze und in der Breite aufpeppen.

Hertha

Die starken Männer der Alten Dame schon 1999 in der Champions League aktiv: Michael Preetz (o. re.) und Pal Dardai (u. 2.v.li.). getty images

Trainer:

Pal Dardai, im Februar 2015 als Nachfolger für Jos Luhukay installiert, führte Hertha zum Klassenerhalt – und in dieser Saison auf Rang drei und ins Pokal-Halbfinale. Er hat atmosphärisch und sportlich mit einer Mischung aus Lockerheit und Strenge den Turnaround geschafft. In Sachen Erfahrung macht Herthas Rekordspieler (286 Bundesliga-Einsätze/17 Tore) niemand etwas vor: 61 A-Länderspiele für Ungarn (fünf Tore), 42 Europacup-Einsätze (ein Tor). Dardai kennt die Champions League als Spieler. Mit Hertha BSC maß sich der defensive Mittelfeldspieler in der Saison 1999/2000 mit etlichen Hochkarätern des Kontinents – und sorgte für Furore. In ihrer Vorrunden-Gruppe ließen Jürgen Röbers Berliner Galatasaray Istanbul und Milan hinter sich und nur Chelsea den Vortritt, die Zwischenrunde (mit dem FC Barcelona, dem FC Porto, Sparta Prag) war dann Endstation. In jener Saison, im Oktober 1999, machte der FC Bayern Dardai ein Angebot – der blieb in Berlin, wurde als Spieler zur Legende und sammelte nach der Profi-Karriere als Coach im Nachwuchs (Herthas U15) und von September 2014 bis Sommer 2015 als ungarischer Nationaltrainer erste Meriten. Er legte den Grundstein für Ungarns erste EM-Teilnahme seit 1972. Auch wenn er das Wort derzeit auf den Index gesetzt hat: Der überaus ehrgeizige Dardai will auch als Trainer in die Champions League – irgendwann.

Taktik:

4-2-3-1, 4-1-4-1, 4-3-3, zuletzt auch im 4-4-2: Hertha will unberechenbar für die Gegner bleiben. Bei aller Flexibilität ist Dardais Spielidee klar zu erkennen: Spielkontrolle, Ballbesitz, Kurzpass-Spiel. Die Mannschaft, die unter dem Ungarn wenige Gegentore kassiert (40 in jetzt 40 Spielen), hat in dieser Saison ihr Spiel mit Ball grundlegend verbessert. Für mehr Gefahr im Umschaltspiel fehlt es dem Kader an Tempo. Dardai weiß das – und will in der anstehenden Sommer-Transferperiode den Fokus darauf richten.

Konstanz:

Die Hinrunde verlief beinahe sensationell konstant, Hertha brach nie ein und antwortete auf jede Niederlage im folgenden Spiel mit einem Sieg. In der Rückrunden-Tabelle liegt Hertha aktuell auf Platz elf – mit zehn Punkten aus acht Spielen. Das Team hat zuletzt etwas an Punch eingebüßt (sieben Rückrunden-Tore, in vier der acht Spiele torlos) – was auch am Formtief einiger Leistungsträger (Darida, Lustenberger) liegt. Dennoch sprangen in der englischen Woche zuletzt bei drei Spielen zwei Siege heraus. Ibisevic sagte im Januar dem kicker: "Alle warten darauf, dass wir einbrechen." Bislang ist das nicht passiert.

Fans:

Im Top-Spiel gegen Schalke rechnet Hertha am Freitagabend mit etwa 50.000 Zuschauern – das illustriert ein Problem, das den Klub seit Jahren beschäftigt: Das riesige und eher unwirtliche Olympiastadion vollzubekommen, ist auch in sportlichen Erfolgsphasen eine permanente Herausforderung. Das liegt am breiten Angebots-Spektrum, das die Hauptstadt sonst noch zu bieten hat – aber auch am eher spröden Charme der traditionsreichen Spielstätte und einigen Enttäuschungen, die der Klub seinen Fans in den vergangenen Jahren (Abstiege 2010, 2012) zugemutet hat. Immerhin: Die Mitgliederzahl (inzwischen knapp 33.000) ist in den vergangenen Jahren immens gestiegen.

Fazit:

Herthas Saisonziel, der Klassenerhalt, ist längst unter Dach und Fach. Falls die Mitbewerber weiter schwächeln und Hertha offensiv wieder etwas zulegt, ist in dieser Saison Platz drei oder vier durchaus möglich – auch wenn Budget und Kaderstärke dem nicht entsprechen. Die Berliner flogen lange unter dem Radar der Konkurrenz. Inzwischen werden sie von allen ernstgenommen. Trotz des Understatements: Dardais Mannschaft will ihre bislang so starke Saison krönen – mit dem Einzug ins Pokalfinale und einer Top-Platzierung in der Liga.

Steffen Rohr