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Fehleranalyse nach Deutschlands 0:1 gegen Mexiko: Was Bundestrainer Joachim Löw jetzt ändern muss

kicker-Kolumne: "Wenn ich Bundestrainer wäre..."

Fehleranalyse: Was Löw jetzt ändern muss

"Wenn ich Bundestrainer wäre...": kicker-Chefreporter Karlheinz Wild spielt Joachim Löw.

"Wenn ich Bundestrainer wäre...": kicker-Chefreporter Karlheinz Wild spielt Joachim Löw. imago/kicker

Von kicker-Chefreporter Karlheinz Wild

Erklärungen der aktiv Beteiligten gibt es an diesem Montag nicht. Joachim Löw, seine Assistenten und Spieler bewältigen den 0:1-Start gegen Mexiko unter sich. Es gibt viel zu analysieren, zu korrigieren und zu justieren.

1. Die grundsätzliche Einstellung

Der Bundestrainer hat schon im Vorfeld intensiv darauf hingewiesen, dass die absolute Bereitschaft, den Welttitel vier Jahre nach dem Triumph 2014 erneut gewinnen zu wollen, fundamental wichtig sei und von jedem Einzelnen aufgebaut werden müsse. In nahezu jeder öffentlichen Äußerung aus DFB-Kreisen wurde vom Hunger gesprochen, dass den Zuhörern schon der Magen knurrte. Gegen Mexiko dann trabten viele satt wirkende deutsche Spieler über den Platz. Von Gier nach drei Punkten war lange nichts zu spüren.

Statt einer engagierten Gegenwehr ließen sich die Özil, Khedira, Kroos oder Werner zu peinlichen Fallern/Schwalben hinreißen und beschwerten sich, wenn sie zu Recht keinen Freistoß bekamen. Dabei sind beherzte, regelkonforme Zweikämpfe selbst gegen Weltmeister keine Majestätsbeleidigung. Angeblich waren die DFB-Delegierten doch darauf vorbereitet, dass sie, die renommierten und höchst dekorierten Titelverteidiger, mit massivem Widerstand bei diesem globalen Turnier bekämpft würden. Als nun in Moskau im ersten Gruppenspiel der Ernstfall eintrat, schienen sie vom Engagement und der Entschlossenheit der Mexikaner überrascht zu sein. Die mentale Vorbereitung hatte da nicht funktioniert. Löw und seine Kollegen im Trainerstab müssen das Bewusstsein ihrer Auserwählten in diesen Tagen bis zum Spiel gegen Schweden nachdrücklich schärfen.

2. Die physische Verfassung

Mexikos WM-Gesandte erledigten ihren Auftrag nicht nur williger und eifriger, sondern auch frischer, flinker, physisch fitter. Bei Jerome Boateng sind körperliche Defizite nach siebenwöchiger Verletzungspause nachvollziehbar; aber Sami Khedira, Toni Kroos, auch Mats Hummels erschienen wenig spritzig. Insgesamt fehlt es dem deutschen Gefüge im defensiven Zentrum an Tempo, auch die Außenverteidiger Kimmich-Hector-Plattenhardt sind keine ausgemachten Sprinter. Joshua Kimmich verschliss sich wieder einmal bei seinen ständigen Läufen nach vorne und - meist zu spät - zurück. Tempodribblings zur Belebung der deutschen Offensive fielen im Grunde aus. Insgesamt muss jeder Akteur aber bereit sein zum schnellen kurzen Lauf und zur beschwerlichen Langstrecke.

3. Die taktischen Defizite

Wie in den schon missratenen Tests gegen Österreich (1:2) und Saudi-Arabien (2:1) gönnte die deutsche Elf dem Gegner allen Spielraum der Welt. Wer macht einem Kimmich eigentlich endlich klar, dass er zunächst seine Aufgaben rechts hinten zu erfüllen hat? Er ist nicht für Fallrückzieher zuständig, mögen sie noch so ansehnlich und - wie gegen Mexiko - im Ansatz torgefährlich sein (65.); sondern für die Stabilisierung der Deckung. Kimmichs ehrenwerter Eifer schlägt sich immer mehr kontraproduktiv nieder, er muss endlich eine dem Teamwork förderliche Balance zwischen Defensive und Offensive finden. Für den dieses Mal erkrankten Jonas Hector gilt dieser Befund nahezu genauso.

Wie auf den Flügeln klafften auch in der Mitte des Mittelfelds Lücken, da Khedira und Kroos sich zu zaghaft zuordneten oder von den durch die Korridore sausenden Mexikanern respektlos überrannt wurden. In diesen Zonen muss sich das Kollektiv enger zusammenfügen, vertikal und horizontal, die unmittelbare Auseinandersetzung mit einem Gegner darf nicht gescheut werden. So müssen zum Beispiel Khedira - falls er in der Elf bleiben sollte - und Boateng die rechte Seite abschirmen, wenn sich Kimmich auf Angriffstour befindet; und Thomas Müller muss seinen Partner entlang der rechten Bande bei der Abwehrarbeit mehr konkret eingreifend als lauernd-spekulierend unterstützen. Oder Löw probiert es mit einer Dreierkette, wenn sich Kimmich und der Gegenüber auf links so ausgiebig nach vorne einmischen sollen.

4. Die spielerischen Mängel

Die banale Basis des Fußballspiels, in dem so oft überhöht von Philosophie erzählt wird, bilden die Bewegung und sauberes Passspiel. Sind dann in der Breite und Tiefe eng aufgereihte Abwehrmauern zu löchern, braucht es schnelle Kombinationen, Flügelspiel, den Mut zu direkten Duellen, das couragierte Vordringen in den Sechzehn- und gar Fünfmeterraum bei Flanken oder dem finalen Zuspiel in die Tiefe sowie den platzierten Scharfschuss. Alle diese Zutaten haben die deutschen Spieler in ihrem reichhaltigen Repertoire, sie wenden sie aber nicht mehr an.

Stattdessen erlaubten sich Müller oder Kimmich Hereingaben ins Nirgendwo. Draxler umging - außer bei einem Übersteiger - Dribblings; passte stattdessen lieber quer oder zurück; den richtigen Moment, gefährlich zu schießen, verpasste er, handlungslangsam, in zwei verheißungsvollen Szenen, oder er verzog. Insgesamt scheuten die deutschen Spieler das direkte Duell - nach vorne, Özil verhängnisvoll zurückhaltend nach hinten bei der direkten Abwehraktion beim 0:1. Marco Reus hat diese Qualität zum direkten Duell nach vorne, Werner ebenso. Aber der typische Kombinationsspieler ist Werner nicht, er braucht den Pass in die Tiefe, um dann loszuziehen oder in Lücken zu starten. Özil, Kroos und andere müssen ihm entsprechend servieren.

Muss der Effekt brachial erzwungen werden, soll es Mario Gomez richten. Der wuchtige, auch kopfballgewaltige Keilstürmer kam gegen Mexiko in der 79. Minute - der Flankengeber von links, Marvin Plattenhardt, ging. Seltsam. Von rechts kam auch nichts, weil Thomas Müller in dieser Rolle arg fremdelt. Der Führungsspieler und eigentliche WM-Torjäger (je 5 Treffer 2010 und 2014) hatte zuletzt keine gute Form und gegen Mexiko keine Torszene. Der Münchner Instinktfußballer fühlt sich wohler, wenn er sich kreuz und quer und oft im Innenbereich des Strafraumes austoben darf; er kann es aber auch über rechts, wie er im DFB-Dress oft bewies. Er sollte daran erinnert werden.

5. Die atmosphärischen Fragen

Hummels sagte nach dem Spiel gegen Mexiko einen bemerkenswerten Satz. Sinngemäß lautete seine Aussage: Er habe seit langem auf die Nachlässigkeiten in der kollektiven Defensivarbeit hingewiesen - offenbar ohne Widerhall. Die Führungsgruppe um Manuel Neuer, eher ein leiser Kapitän und ein Verfechter der flachen Hierarchie, muss nun sämtliche Kollegen einsammeln und auf Kurs bringen. Neuer, Hummels, Boateng, Khedira oder Müller haben 2014 erlebt, wie die emeritierten Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Miroslav Klose und Per Mertesacker ihren Führungsauftrag erledigt haben. Die Töne nach dem verdrehten Auftakt 2018 waren allgemein deutlich und werden in der selbstverordneten DFB-Wohlfühloase ihren Nachhall finden müssen. Eine Fußballmannschaft muss nicht immer ein Hort der Harmonie sein. Intern werden da einige unangenehme aus- und angesprochen werden müssen.

6. Die dringlichsten Personalien

Reus, wiewohl noch nicht in Superform, trägt die offensiven Hoffnungen, weil er dribbeln, schnell laufen und Tore schießen kann. Er muss in die Startelf. Ob er in der von ihm bevorzugten offensiven Mittelfeldzentrale oder über die linke Flanke loslegt, ist zweitranging - Hauptsache, er wirkt von Anpfiff an mit. Ob der blasse Özil oder der genauso ineffiziente Draxler eine erneute Chance zur Bewährung bekommen, sollten die Trainingseindrücke im Laufe der Woche liefern. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie das defensive Mittelfeld verdichtet werden kann. Kroos ist als Gestalter unverzichtbar. Und Khedira? Auch ihm sollte die Möglichkeit zur Wiedergutmachung gewährt werden, allerdings muss er mehr die dringend nötigen defensiven Hilfsdienste leisten, mehr den Sechser hinter und neben als den Achter vor Kroos geben. Auch Müller wird mehr bieten müssen, wenn sein bislang berechtigter Status der Unantastbarkeit bestehen bleiben soll. Aber Julian Brandt stellt halt auch nicht die bessere Alternative dar.

Die Generation der 2014er Weltmeister - Neuer, Özil, Khedira, Müller, Kroos -, deren große Tour durch den Weltfußball 2010 begann, müssen nachweisen, dass sie nicht müde und satt sind nach so vielen mitreißenden Spielen und Erfolgen. Dass ihre große Zeit noch nicht vorbei, dass ihr Heute noch nicht Vergangenheit ist. Auf diese Jetzt-erst-recht-Reaktion muss auch ihr Chef Löw setzen, Emotionen wecken. Der weltmeisterliche Bundestrainer selbst muss die Mannschaft aber auch gezielt coachen. Wenn die Mexikaner den Deutschen anders als erwartet begegneten, muss es einen Plan B geben, von Anfang an oder mit spontanen Maßnahmen während des Spiels. Und wenn die Defensive immer und immer wieder vernachlässigt wird, muss von außen der unmissverständliche Befehl zur Besserung deutlich vernehmbar erschallen. Jüngst fehlten diese konkreten Eingriffe.

Zweimal 5,5 - Die Noten zum deutschen WM-Fehlstart