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"Er flehte Ordner um Hilfe an, doch niemand half"

Interview mit John Glover, Gründungsmitglied der Hillsborough Justice Campaign

"Er flehte Ordner um Hilfe an, doch niemand half"

John Glover (68) ist Gründungsmitglied der Hillsborough Justice Campaign (HJC) - einer Hilfsinitiative für Überlebende und Hinterbliebene der Stadionkatastrophe von 1989. Einer seiner drei Söhne starb dort, zwei überlebten, fanden nur schwer ins Leben zurück. 1999 kam Glovers Sohn Joe bei einem Arbeitsunfall um, an seinem ersten Arbeitstag nach Hillsborough.

kicker: Herr Glover, vor 20 Jahren, am 15. April 1989, fuhren Ihre drei Söhne, Ian (damals 20), Joseph (22) und John (28), nach Sheffield, um das FA-Cup-Halbfinale des FC Liverpool gegen Nottingham Forest zu sehen. Nur zwei kamen lebend zu-rück. Wie hat dieser Tag Ihr Leben verändert?

John Glover: Bis Ian starb, waren wir eine heile Familie. Doch nach Hillsborough kam keiner von uns mehr zurecht. Es war zu furchtbar.

kicker: Niemand in Liverpool hat mit der Tragödie bislang abschließen können. Warum?

Glover: Weil bis heute niemand die Verantwortung dafür übernommen hat. Und man sich einen Dreck um die Überlebenden kümmert. Denn für sie hat Hillsborough ja nie aufgehört. Ich habe es an den eigenen Söhnen erlebt. Ian und Joe waren zusammen im Block hinter dem Tor eingepfercht. Joe hatte versucht, über den Zaun zu klettern, aber ein Polizist drängte ihn immer wieder zurück. Als man beide erlöste, schleppte Joe seinen Bruder auf den Rasen und versuchte, ihn wiederzubeleben. Er wusste nicht wie, flehte Ordner um Hilfe an, doch niemand half. Ian starb in seinen Armen. Joe hat das nie verwunden.

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kicker: Welche Erinnerungen haben Sie selbst an diesen Tag?

Glover: Ich habe kein einziges Detail vergessen. Wie wir die Nachricht von Ians Tod bekamen und meine Frau in der Küche zu schreien begann Mit diesem Schrei in den Ohren lebe ich seit fast 20 Jahren. Wie ich nach Sheffield raste und Joe vor dem Krankenhaus fand, völlig alleingelassen, er weinte herzzerreißend. "Ian", war das Einzige, was er herausbrachte. Er stand unter Schock. Drinnen sagte mir ein Arzt, Ian sei gar nicht tot, ich brach bewusstlos zusammen. Als ich wieder zu mir kam, rief ich meine Frau an und sagte: Ian lebt! Dann fuhren wir in die Turnhalle, wo die Toten von Hillsborough lagen. Dort empfing uns ein Polizist. Er sagte: Herr Glover, Ihre Söhne Ian und Joe sind beide heute Nachmittag verstorben. Da brach ich zum zweiten Mal zusammen, meine Söhne mussten mich stützen. Ich traute meinen Sinnen nicht mehr. Ich klammerte mich an Joe und sagte: Du lebst doch, oder, du bist es doch? Dann musste ich Ian identifizieren. Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Auch weil die Polizisten uns die ganze Zeit behandelten wie Verbrecher. Auf der Wache ließen sie mich nicht mal zur Toilette gehen! Ich kann und werde ihnen das nie verzeihen.

kicker: Wer half Ihnen, mit der Trauer fertig zu werden?

Ich glaube, dass es der Trost und die Liebe der Menschen in Liverpool waren, die uns am Leben hielten.

Glover: Ich glaube, dass es der Trost und die Liebe der Menschen in Liverpool waren, die uns am Leben hielten. Als Ian in unserem Wohnzimmer aufgebahrt wurde, hielt Kenny Dalglish (Liverpools Teammanager, Anm. d. Red.) mit uns Totenwache. Auch er konnte Hillsborough nicht fassen, ich denke, er kann es bis heute nicht. Zur Beerdigung brachte er drei seiner Spieler mit. Er besuchte mich unzählige Male, trank mit mir Tee. Und als der FC Liverpool dann im Pokalfinale ge- gen Everton gewann, klopfte er ei- nen Tag später an meiner Tür und brachte mir ein Trikot vorbei. Glauben Sie mir, ich kann den Menschen Kenny Dalglish nicht hoch genug loben.

kicker: Wo ist dieses Trikot heute?

Glover: Ich habe es der Hillsborough Justice Campaign gegeben, es wurde versteigert,

kicker: Wofür kämpft diese Hilfsinitiative?

kicker: Dafür, dass die Wahrheit über Hillsborough endlich ans Licht kommt. Ich glaube nicht, dass es in diesem Land jemanden gibt, der mehr über diesen Tag weiß als ich. Ich war bei jeder Gerichtsverhandlung, bei jeder Parlamentsdebatte, hatte Gespräche mit Richtern und Ministern. Man hat mir immer viel versprochen, aber nie etwas gehalten. Denn wissen Sie, es sind so viele Lügen erzählt worden. Sogar vom Polizeichef selbst. Superintendent David Duckenfield hat ja noch an Ort und Stelle behauptet, die Fans hätten in ihrem Suff das Tor aufgebrochen, durch das sie anschließend in den schon vollen Block drängten. Später musste er zugeben, dass er selbst den Befehl dazu gegeben hatte.

kicker: Er wurde 1991 wegen post-traumatischer Belastungsstörungen vorzeitig in den Ruhestand verabschiedet.

Glover: Ein bitterer Moment. Gemeinsam mit anderen habe ich Duckenfield zehn Jahre nach Hillsborough wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Die Jury konnte sich nicht auf ein Urteil einigen, auf eine Revision verzichtete man aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme. Mein Sohn Joe hat zehn Jahre lang Depressionen gehabt. Keinen Penny habe ich für den Tod meines Ian gesehen. Jetzt frage ich Sie - wo ist da die Gerechtigkeit?

kicker: Die HJC ruft auch heute noch dazu auf, die Sun, ein Boulevardblatt aus London, zu boykottieren. Warum?

Glover: Weil sie drei Tage, nachdem unsere Kinder gestorben waren, die Liverpool-Fans als Schuldige der Tragödie brandmarkte. Die seien alle betrunken gewesen, hätten auf die tapferen Polizisten uriniert. Darüber druckten sie fett: "Die Wahrheit über Hillsborough". Alles frei erfunden, wie sich später herausstellte. Ich kenne niemanden in Liverpool, der dieses Drecksblatt kauft.

kicker: Schauen Sie sich eigentlich noch Fußballspiele an?

Glover: Nein, das schaffe ich nicht. Ich habe das Gefühl für den Fußball schon lange verloren.

Iris Hellmuth