Champions League

Die Eintracht und ihr Jahr der Schmetterlinge - Spur zu Gosens

Frankfurts nächste historische Nacht und ihre Folgen

Die Eintracht und ihr Jahr der Schmetterlinge

Die Reise geht weiter: Eintracht Frankfurts Profi nach dem Coup in Lissabon.

Die Reise geht weiter: Eintracht Frankfurts Profi nach dem Coup in Lissabon. IMAGO/AFLOSPORT

Als der Frühling erwachte, entstand auch auf den Rängen neues Leben. Nach einem finsteren Corona-Winter kehrte die Fröhlichkeit zurück. Bei frühsommerlichen Temperaturen funkelten am 9. März 2022 in Sevilla die überall in den Bäumen hängenden saftigen Orangen in der Sonne. Die Pandemie schien für einen Moment weit weg, in den engen Altstadtgässchen tummelten sich Tausende Eintracht-Fans bei Tapas und Cerveza, freuten sich auf das Achtelfinal-Hinspiel am Abend bei Real Betis.

Die aktive Fanszene, die wegen der Corona-Restriktionen lange ferngeblieben war, kehrte an jenem Tag zurück und ließ die Stimmung aufleben. Nach dem verdienten 2:1-Sieg - Filip Kostics Kunstschuss zum 1:0 bleibt unvergessen - witzelten viele, dass Sevilla die Eintracht nicht zum letzten Mal gesehen hat. Am 18. Mai würde hier schließlich das Finale ausgetragen werden. Nun ja, vermutlich trauten selbst kühne Optimisten diesen Prognosen nicht so recht. Das änderte sich, als Frankfurt einen Monat später mit geschätzt 30.000 weiß gekleideten Fans das Camp Nou eroberte, den großen FC Barcelona phasenweise vorführte und durch ein 3:2 verdient ins Halbfinale einzog.

Die "Metaphysik" des Europa-League-Triumphs

Plötzlich war die Flugverbindung Frankfurt-Sevilla wieder gefragt - wer ist schon West Ham United? Mit zwei Siegen gegen den Klub aus dem Londoner Osten zogen die Hessen ungeschlagen ins Finale gegen die Rangers ein - und erlebten in der Hitzeschlacht von Sevilla einen der größten Momente in ihrer Vereinsgeschichte, der tags darauf in Frankfurt von Hunderttausenden frenetisch gefeiert wurde. 42 Jahre nach dem UEFA-Cup-Sieg 1980 gewann die SGE erst zum zweiten Mal überhaupt einen internationalen Titel und schickte ausgerechnet in jener Saison, in der die Vereinslegenden Jürgen Grabowski und Bernd Nickel verstarben, einen Gruß gen Himmel. Vorstand Axel Hellmann sprach andächtig von "Metaphysik".

Sporting CP v Eintracht Frankfurt: Group D - UEFA Champions League Sebastian Rode of Frankfurt (R ) celebrates the victory with Daichi Kamada at the end of the UEFA Champions League Group D football match between CP and Eintracht Frankfurt at the Alvalade stadium in Lisbon, Portugal on November 1, 2022. Lisbon Portugal PUBLICATIONxNOTxINxFRA Copyright: xPedroxFiuzax originalFilename:fiuza-sporting221101_npW2d.jpg

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Ein knappes halbes Jahr später haben die Anhänger schon wieder - oder noch immer - Schmetterlinge im Bauch. Auch die Nacht von Lissabon ist historisch: Gleich bei der ersten Champions-League-Teilnahme in der Vereinsgeschichte ins Achtelfinale einzuziehen, ist ein Erfolg, auf den Spieler wie Verantwortliche mächtig stolz sein dürfen. Inklusive Frankfurt spielten bisher 14 deutsche Klubs in der Gruppenphase der Champions League, die Hälfte zog bei ihrer Premiere in der Gruppenphase in die K.-o.-Phase ein.

In Gruppe D gab es keinen leichten Gegner, keinen Außenseiter wie Pilsen, Haifa oder Kopenhagen. Zwar bekam es Frankfurt mit keinem Schwergewicht der Kategorie Real Madrid, Manchester City oder Paris St. Germain zu tun, doch das soll die Leistung nicht schmälern. In einer Gruppe mit Tottenham, Marseille und Sporting Lissabon den zweiten Platz zu erreichen, ist aller Ehren wert. Nachdem die Mannschaft bei der 0:3-Auftaktniederlage gegen Sporting noch reichlich Lehrgeld bezahlt hatte, vollzog sie national wie international eine beachtliche Entwicklung. Trainer Oliver Glasner hat trotz personeller Probleme in der Defensive und dem Verlust der Leistungsträger Martin Hinteregger und Filip Kostic wieder ein schlagkräftiges und sogar in der Champions League konkurrenzfähiges Team geformt.

Eine Spur führt zu Gosens

Der Sieg in Lissabon spült inklusive aller Prämien und einem vollen Stadion im Achtelfinale gut und gerne 15 Millionen Euro in die Kassen. Das vergrößert den Spielraum von Sportvorstand Markus Krösche auf dem Winter-Transfermarkt. Im Januar 2022 landete er mit Ansgar Knauff einen Volltreffer - ohne den von Dortmund ausgeliehenen Schienenspieler hätte ein entscheidendes Puzzleteil für den Europa-League-Triumph gefehlt. Gelingt ihm nun ein ähnlicher Coup? Eine Spur führt nach Mailand zu Robin Gosens. Mit seiner Dynamik und Robustheit würde der Nationalspieler perfekt zur Eintracht passen und könnte die Lücke schließen, die Kostic links hinterließ.

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Der Einzug ins Achtelfinale könnte auch bei den Vertragsgesprächen mit Evan Ndicka und Daichi Kamada helfen. Es wäre aus sportlicher wie aus wirtschaftlicher Sicht ein wichtiges Zeichen, wenn es Krösche gelänge, zumindest einen der beiden auslaufenden Verträge zu verlängern. Insbesondere Kamada kann objektiv betrachtet nur zu einer Verlängerung geraten werden. In Frankfurt fand der brillante Kreativspieler in den vergangenen Jahren ideale Bedingungen vor, um sich bestmöglich zu entwickeln. Ob er den Schritt zu einem noch größeren Klub meistern könnte, erscheint wegen seines für einen Offensivspieler eher durchschnittlichen Tempos und der Leistungsschwankungen in den vergangenen Jahren fraglich.

Erkennt Kamada, was er an der Eintracht hat?

Es gibt gleich mehrere mahnende Beispiele: In Luka Jovic, Ante Rebic, André Silva und Kostic verließen in den vergangenen Jahren einige hochbegabte Offensivspieler die Eintracht, doch so gut wie am Main spielten sie seither nicht mehr. Die einzige Ausnahme bildet Sebastien Haller, der nach einer verkorksten Zeit bei West Ham in Amsterdam zu alter Stärke zurückfand. Im Grunde kann die Eintracht Kamada all das bieten, was er für eine erfüllte und erfolgreiche Karriere braucht. Ob das auch der Spieler und seine Berater erkennen?

In den vergangenen sechs Jahren hat die Eintracht jedenfalls enorm an Strahlkraft gewonnen. In Lissabon erzählte Vorstandssprecher Hellmann nach dem Spiel, dass er kurz vor dem Abpfiff an 2016 zurückdenken musste, als Stürmer Haris Seferovic Frankfurt im Relegationsrückspiel in Nürnberg mit seinem Tor vor dem Abstieg bewahrte. Wer damals prognostiziert hätte, dass die Eintracht in den folgenden Jahren den DFB-Pokal und die Europa League gewinnen würde, bevor sie in die K.-o.-Phase der Champions League einzieht, wäre umgehend in eine geschlossene Heilanstalt verlegt worden. Niko Kovac und Fredi Bobic legten nach dem Nervenkrimi in Nürnberg im sportlichen Bereich den Grundstein für diese nicht für möglich gehaltene Entwicklung, die von den Trainern Adi Hütter und Glasner sowie Sportvorstand Krösche erfolgreich fortgeführt wurde.

Seit dem Pokalsieg 2018 erleben die Fans ein scheinbar nicht enden wollendes Märchen. Die Sorge, dass die coronabedingten Geisterspiele der Begeisterung rund um die Eintracht ein jähes Ende bereiten könnten, erwies sich im Nachhinein als unbegründet. Das zeigte schon die Völkerwanderung nach Barcelona. Mit Schmetterlingen im Bauch können sich die Anhänger nun auf die Champions-League-Auslosung und mindestens zwei weitere Festtage freuen.

Die Mannschaft muss indes darauf achten, bei aller Euphorie den Fokus auf die Liga nicht zu verlieren. Denn hier entscheidet sich, ob die SGE auch 2023/24 im dann auf 60.000 Plätze ausgebauten Waldstadion magische europäische Nächte erleben wird. Europapokal ohne die Eintracht? An diese Vorstellung könnte man sich nur schwer gewöhnen.

Julian Franzke