Int. Fußball

Das Schicksal von Joe Gaetjens, der das größte US-Tor schoss

Zum 100. Geburtstag von Joe Gaetjens

Der Haitianer, der das berühmteste Tor des US-Fußballs schoss und verschwand

Joe Gaetjens wird nach dem US-Sieg über England 1950 vom Feld getragen.

Joe Gaetjens wird nach dem US-Sieg über England 1950 vom Feld getragen. picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Englands Sportpresse gilt, wenn die Fußball-Nationalmannschaft versagt, als wenig zimperlich - doch deren wohl blamabelste Niederlage kehrte sie beinahe unter den Teppich. Die schallende erste Test-Pleite der englischen Cricket-Mannschaft gegen die West Indies ließ das 0:1 der Fußballer gegen WM-Underdog USA am 29. Juni 1950 zur Nebensache werden. Kaum zu glauben, aber wahr.

Die Balltreter konnten sich glücklich schätzen, dass man im Mutterland des Fußballs nach jahrzehntelangem Streit noch immer nicht gut auf Weltverband FIFA zu sprechen war, auch wenn England 1950 erstmals an einer WM teilnahm.

Matthews wurde gegen die USA geschont

Die englische Abwesenheit vom längst größten aller Fußballturniere wurde stets auch von einem gewissen Hochmut begleitet. Als rechtmäßigen Weltmeister betrachteten sich die "Three Lions" qua Abstammung in der Regel selbst. 1934 hatten sie mal Weltmeister Italien zum "wahren" WM-Finale eingeladen und tatsächlich mit 3:2 gewonnen, wobei die Italiener lange Zeit in Unterzahl spielen mussten.

Erfolge wie dieser ließ die Engländer, nachdem sie ihr erstes WM-Spiel gegen Chile mit 2:0 gewonnen hatten, ziemlich leichtfertig in die Partie gegen Fußballzwerg USA gehen. So leichtfertig, dass die FA-Verantwortlichen sogar entschieden, Ausnahme-Angreifer Stanley Matthews für die Finalrunde zu schonen.

Im Estadio Independencia zu Belo Horizonte, vor rund 13.000 Zuschauern, standen dennoch Namen wie Billy Wright, Alf Ramsey oder Tom Finney einer US-amerikanischen Auswahl gegenüber, deren Spieler nicht in erster Linie Fußballer waren. Mittelfeldmann Walter Bahr war Lehrer, Torhüter Frank Borghi arbeitete für das Bestattungsunternehmen seines Onkels und Mittelstürmer Joe Gaetjens studierte in New York Rechnungswesen, wodurch er bei der WM 1950 in Brasilien überhaupt erst auf dem Platz stand.

Joseph Edouard Gaetjens kam am 19. März 1924 in Haiti zur Welt, was bedeutete, dass er kein US-Amerikaner war. Wie für zwei Teamkollegen reichte es für Gaetjens damals aber aus, dass er die US-Staatsbürgerschaft immerhin beantragt hatte - die er übrigens nie erhalten sollte.

Er fand immer einen Weg, ein Tor zu schießen.

Teamkollege Walter Bahr über Joe Gaetjens

In seiner Heimat, bei Etoile Haitienne, hatte der knapp 1,80 Meter große Gaetjens - für damalige Verhältnisse fast ein Hüne - bereits Meisterschaften gewonnen. Doch die WM-Bühne bekam der Kopfballspezialist, der nebenbei in einem Restaurant Teller wusch, deshalb zu Gesicht, weil er in der Saison 1949/50 für das New Yorker American-Soccer-League-Team Brookhattan in 15 Spielen 18 Tore schoss. Aber auch, weil der damals 26-Jährige mit dem Ball etwas anzufangen wusste: "Joe war talentiert, akrobatisch, er fand immer einen Weg, ein Tor zu schießen", schwärmte Mitspieler Bahr einmal bei ESPN. Von dieser Sorte hatten die USA nicht viele. Schon gar nicht im Vergleich zu den Engländern.

Das US-Team war, nachdem es lange geführt hatte, mit einer 1:3-Niederlage gegen Spanien in die WM gestartet. Höhere Führung gefällig? "Es wäre fair, den USA drei Tore Vorsprung zu geben", tönte der englische Daily Express vor dem zweiten Gruppenspiel. Und so sah es zunächst auch aus. Es stürmte nur England, das aber nicht über zwei Pfostentreffer hinauskam und immer wieder am starken Rückhalt Borghi scheiterte. 37 Minuten lang stand es 0:0.

Dann wagte Bahr einen Fernschuss. Recht harmlos eigentlich, so wurde es überliefert. Doch urplötzlich warf sich der talentierte und akrobatische Gaetjens, der immer einen Weg fand, ein Tor zu schießen, in den Schuss und erwischte Englands Keeper Bert Williams per Flugkopfball auf dem falschen Fuß. 1:0 für die USA.

Die USA treffen gegen England, WM 1950.

Dieses Foto zeigt Gaetjens' Tor, aber nicht den Schützen. Dafür Englands späteren Weltmeister-Trainer Alf Ramsey (re.), der nur zuschauen kann. Popperfoto via Getty Images

Mit fortlaufender Spieldauer füllte sich das kleine Stadion immer mehr mit Einheimischen, die das Spiel im Radio verfolgt hatten. Sie schrien für den Underdog, der erst zehn Tage zuvor fast in gleicher Besetzung 0:1 gegen England verloren hatte, das nun allerdings ganz anders antrat. Diese britische Elf sollte bis zum bitteren Ende keinen Weg vorbei an Borghi finden, der es genauso verdient gehabt hätte wie Gaetjens, nach Schlusspfiff umjubelt vom Platz getragen zu werden. Eine der größten Sensationen der Fußballgeschichte war perfekt.

Nach einer weiteren Niederlage gegen die Spanier musste England sogar schon die Heimreise antreten - wie die USA und Gaetjens. Den zog es ob seiner neuen Berühmtheit schnell nach Frankreich, wo er sich allerdings weder in der ersten noch in der zweiten Liga durchsetzen konnte. Dennoch wurde er 1953, als er nach Haiti zurückkehrte, wie ein Nationalheld empfangen. Bei Etoile ließ er seine wenig spektakuläre Karriere - mit diesem so spektakulären Treffer - schließlich ausklingen.

Politische Bande sorgen für tragischen Tod

Der Sonnenseite des Lebens musste Gaetjens daraufhin nicht den Rücken kehren. In seiner Geburtsstadt, Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, baute er sich eine Existenz als gut aufgestellter Geschäftsmann auf. Vieles lief ziemlich unbeschwert. Bis Francois "Papa Doc" Duvalier in Haiti an die Macht kam.

Papa Docs Militärdiktatur war auch so schon schlimm genug, für Gaetjens aber besonders brisant. Er stand, auch wenn er selbst ziemlich unpolitisch war, familiär mit Duvaliers Gegner Louis Dejoie in Verbindung - und damit erneut in der Schusslinie. Diesmal mit weniger umjubeltem Ausgang.

Als sich Duvalier im Juni 1964 zum Präsidenten auf Lebenszeit erklärte, schrillten bei den Gaetjens' die Alarmglocken - nur bei Joe nicht. Während viele Familienmitglieder Haiti Hals über Kopf verließen, verließ sich der Fußballheld darauf, dass er für die Öffentlichkeit nur dieser war. Völlig harmlos für Papa Doc.

Doch am Morgen des 8. Juli tauchte dessen brutale Geheimpolizei "Tonton Macoute" vor Gaetjens' Waschsalon auf und führte den Schützen des berühmtesten Tores der US-Fußballgeschichte mit vorgehaltenen Waffen ab. Joe Gaetjens wurde nie wieder gesehen.

Wie so viele vermeintliche und tatsächliche politische Gegner Duvaliers wurde auch der mittlerweile 40-Jährige in das berüchtigte Gefängnis Fort Dimanche verschleppt, wo er wohl noch 1964 umgebracht wurde. Auf die Bestätigung seines Todes wartete die Familie bis 1972.

Die Rückkehr des Sohnes

ESPN brachte Gaetjens' ältesten Sohn Lesly vor einigen Jahren nach Port-au-Prince zurück, wo er durch die Ruine schlich, zu der Fort Dimanche zwischenzeitlich geworden war. Durch die Gemäuer, in denen sein Vater einst sein Leben gelassen hatte.

Als Lesly Gaetjens seinen Namen nannte, schlossen ihm die Haitianer aber auch das Stadion auf, in dem sein Vater so umjubelt worden war. Auch dorthin strömten auf einmal immer mehr Menschen, die alle eine Geschichte über Joe Gaetjens zu erzählen hatten. Vergessen haben sie ihn in Port-au-Prince bis heute nicht.

Dieser Text erschien erstmals in der kicker-Ausgabe vom 18. März.

Niklas Baumgart

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