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Tom Hauthal von Special Olympics Deutschland im Interview

Sportdirektor von Special Olympics Deutschland im Interview

"Dass die nicht behinderten Sportler die besseren sind, ist sehr selten der Fall"

Sportdirektor und Delegationsleiter der deutschen Special-Olympics-Athleten: Tom Hauthal (li).

Sportdirektor und Delegationsleiter der deutschen Special-Olympics-Athleten: Tom Hauthal (li). LOC/Anna Spindelndreier, SOD/Stefan Holtzem

Herr Hauthal, wie viel werden Sie als Delegationsleiter auf die Zahl der Siege und Medaillen achten? Oder steht das bei den Special Olympics völlig im Hintergrund, weil es primär um Teilhabe und Spaß geht?

Für uns steht das gar nicht im Hintergrund. Die Athletinnen und Athleten haben sich viele Jahre auf die Spiele vorbereitet. Mit Sicherheit wird die Öffentlichkeit in Deutschland eine berechtigte Erwartungshaltung haben - wir haben aber keine quantitative Medaillenvorgabe. Für uns ist es wichtig, dass die Athletinnen und Athleten in der Lage sind, bei den Weltspielen ihre beste sportliche Leistung zu zeigen. Wenn die dann zum fünften Platz recht, dann ist die Freude vielleicht manchmal sogar einen Tick größer als bei einer Goldmedaille in einem anderen Fall. Trotzdem sind wir natürlich ambitioniert und wollen auch mit einigen Medaillen nach Hause fahren.

Werden Sie nach den Weltspielen die Medaillenzahlen mit denen vorheriger Veranstaltungen vergleichen und daraus Schlüsse ziehen?

Es gibt einen Medaillenspiegel, aber den ziehen wir nicht als Basis für die sportliche Bewertung heran. Die Öffentlichkeit tut das, weil es sehr schön messbar ist. Aber unser Sportkonzept ist so, dass der Medaillenspiegel die Ergebnisse nicht immer korrekt bemisst.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

In den Klassifizierungswettbewerben werden die Athletinnen und Athleten je nach Leistungsstärke eingruppiert. Da gibt es Übergangsbereiche: Es kann sein, dass ich nach der Klassifizierung der Langsamste in der schnellsten Gruppe bin. Oder ich komme als Schnellster der Langsameren noch in die untere Gruppe. Dann habe ich viel bessere Voraussetzungen, um eine Medaille mitzulaufen.

Die Medaillenanzahl ist nicht der richtige Gradmesser für uns.

Tom Hauthal

Einige Athletinnen und Athleten gehen ja in mehreren Disziplinen an den Start ...

Bei ihnen wünschen wir uns idealerweise, dass das Pendel vielleicht in der einen Disziplin in die eine Richtung ausschlägt und in der anderen in die andere.

Sodass sie einmal in die schwächere Gruppe kommen und vielleicht eine Medaillenchance haben - und einmal in die stärkere?

Genau. Deswegen ist die eigentliche Medaillenanzahl nicht der richtige Gradmesser für uns, auf deren Basis man eine Sportförderung oder ähnliches aufbauen könnte.

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Wie kommt man zu den Special Olympics World Games?

Wir haben im Regelwerk ein Prinzip des Aufstiegs verankert. Man muss erst auf der lokalen beziehungsweise regionalen Ebene starten, um dann zu Landesmeisterschaften und nationalen Spielen zu kommen. Und die Teilnahme an letzteren war die Voraussetzung dafür, an den Weltspielen teilnehmen zu dürfen.

Man muss sich also sportlich qualifizieren?

Wir nennen es Anerkennungswettbewerb. Denn die Teilnahme an dem Wettbewerb ist Voraussetzung für die nächste Ebene. Da geht es nicht zwingend um Platzierung. Gerade in kleineren Sportarten wie Rhythmische Sportgymnastik oder Kraftdreikampf haben wir genügend Plätze und nicht so viele Sportlerinnen und Sportler bundesweit. Alle, die diesen Weg von dem kleinen Wettbewerb auf regionaler Ebene bis zur nationalen mitgegangen sind, können an den Deutschen Meisterschaften teilnehmen.

Vorkämpfer für die Rechte der Special-Olympics-Athleten: Tom Hauthal (li.).

Vorkämpfer für die Rechte der Special-Olympics-Athleten: Tom Hauthal (li.). SOD/Sarah Rauch

Und in den großen Sportarten?

In Mannschaftssportarten wie Fußball, aber auch in der Leichtathletik und im Schwimmen, geht das natürlich nicht. Da geht es darum: Welchen Platz habe ich bei den Anerkennungswettbewerben auf Landesebene erreicht? Welche Quote bekommt mein Landesverband? Denn alle Sportler, die vor zwei Jahren den Weg von der Landes- zur nationalen Ebene nicht gehen konnten, weil sie nicht nominiert wurden, die waren automatisch für die Weltspiele raus.

Sie bekommen für die Weltspiele also Quoten genannt?

Der internationale Verband gibt uns vor, wie viele Sportlerinnen und Sportler wir in welchen Disziplinen zu den Weltspielen mitnehmen dürfen. Etwa zehn Prozent der Teilnehmer an den nationalen Spielen (4000 waren es im vergangenen Jahr) dürfen bei den Weltspielen starten: 413 Sportler zählt unsere Delegation.

Durch die Klassifizierungen gibt es ja aber in manchen Disziplinen nicht den einen Goldmedaillensieger.

Wenn es beispielsweise vier Leistungsgruppen gab, haben wir vier. Und jede Goldmedaille ist gleich viel wert.

Kann der Athlet auch von einem fremden Trainer betreut werden? Und ist er in der Lage, ins Ausland zu fliegen? Solche Dinge spielen bei uns auch eine Rolle.

Tom Hauthal

Wie loten Sie dann aus, wer startberechtigt ist?

Hätten wir in einem fiktiven Beispiel zwei Plätze für 100 Meter männlich, aber vier Finals - und alle vier Goldmedaillen-Gewinner bewerben sich, dann haben wir für vier Startberechtigte zwei Plätze. Dann machen wir einen Nominierungslehrgang, wo wir über die sportliche Leistung hinaus schauen: Kann der Athlet auch von einem fremden Trainer betreut werden? Und ist er in der Lage, ins Ausland zu fliegen? Solche Dinge spielen bei uns auch eine Rolle.

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Und wenn das alles geklärt ist und es bliebe bei diesen vier Kandidaten?

Dann gibt es noch ein Kriterium: Wenn Athleten schon bei internationalen Weltspielen waren, dann nominieren wir als erstes die anderen, die noch nicht dabei waren. Um so vielen Sportlerinnen und Sportlern wie möglich die Gelegenheit zu geben. Und in letzter Instanz würde gelost.

Wie genau setzen sich in den Mannschaftssportarten die Teams zusammen? Wie eingespielt kann man sein?

Das ist unterschiedlich. Im Basketball und Fußball haben wir feste Teams im traditionellen und im Unified-Wettbewerb (geistig behinderte und andere Sportler bilden ein gemischtes Team, Anm. d. Red.) nominiert. Also feste Vereinsmannschaften oder solche aus Werkstätten, die das Team für Deutschland bilden. Die Handballer haben sich sowohl bei den Frauen (ohne Unified Partner) als auch bei den Männern (mit Unified Partner) dafür entschieden, Nationalkader zu nominieren. Das ist oft ein Entwicklungsprozess über die Jahre.

Im Handball kennen sich die Athletinnen und Athleten also kaum?

Wir haben versucht, bei einem 12er-Kader nicht Sportler aus zwölf Einrichtungen zu nominieren, sondern kleinere Gruppen aus drei, vier, fünf Vereinen. Im vergangenen Dreivierteljahr ging es darum, das Mannschaftsgefüge zusammenzuführen und das Zusammenspiel zu verfeinern. Die kennen sich in der Handball-Familie auch schon seit vielen Jahren. Von daher beginnt man nicht bei null.

Wie lange hat Special Olympics Deutschland insgesamt auf diese Woche hingearbeitet?

Der konkrete Prozess läuft seit ziemlich genau sieben Jahren. Letztlich wurden wir im November 2018 als Ausrichter der Spiele berufen.

Voller Fokus: die luxemburgischen Tischtennisspielerinnen Daniele Jankowoy und Corinne Bremer.

Voller Fokus: die luxemburgischen Tischtennisspielerinnen Daniele Jankowoy (li.) und Corinne Bremer. Marvin Ibo Guengoer

War es immer klar, dass es Berlin werden soll?

Es gab auch Überlegungen, in Richtung Hamburg oder München zu gehen. Aber im Bewerbungsprozess hat es sich dann recht schnell Richtung Berlin konkretisiert. Das Motto, in den Köpfen Mauern einzureißen, passte perfekt zur Historie der Stadt. Gemeint war, Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu ermöglichen. Außerdem sind die Special Olympics aus der Kennedy-Familie hervorgegangen. Jeder kennt die Worte von John F. Kennedy: Ich bin ein Berliner. Und nun hat sein Neffe (Timothy Shriver, d. Red.) als Vorsitzender die Spiele miteröffnet.

Ist es eine Veranstaltung, bei der sich vor allem reichere Länder die Teilnahme leisten können, und für andere bleibt es ein unerreichbarer Traum?

Per se nicht. Special Olympics ist mittlerweile in fast jedem Land vertreten. In den letzten zwei, drei Wochen ging es noch um die Teilnahme einzelner Länder, zum Beispiel wegen Visa-Herausforderungen. Deutschland hat bei Sportlern aus dem Irak gesagt: Die bekommen kein Visum, auch nicht für diese Veranstaltung.

Und so, wie die Länder in den Regionen der Erde unterschiedlich entwickelt sind, unterscheiden sich auch die Special-Olympics-Programme.

Richtig. In manchen Ländern herrschen Bürgerkriege. Wenn ich da an Nigeria denke, von wo die Sportler nicht anreisen können: Da sind Menschen mit Behinderung eine Gruppe, die sehr weit hintenansteht. Da gibt es dann erst recht keine finanzielle Förderung.

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Sie nutzen den Begriff "geistig behindert", den manche Betroffene gern ersetzen würden. Wie können Zuschauer und Berichterstattende wissen, wie der passende, korrekte Ausdruck lautet?

Da gibt es kein Richtig und kein Falsch. Eigentlich möchte ich über die Athleten so reden, wie sie selbst über sich reden. Da kann ich 20 Leute fragen und bekomme 20 Meinungen. Der eine möchte Athlet mit Handicap genannt werden, der nächste sagt: 'Ich habe ja eine Behinderung, also sage ich auch: Ich bin behindert.' Der Dritte spricht von Beeinträchtigung und der Vierte sagt, er möchte eigentlich nur Leichtathlet sein.

Ein sensibles Thema.

Aber man muss mutig sein. Falsch wäre es höchstens, nicht darüber zu sprechen. Es gibt nicht diesen einen Begriff, unter dem sich alle vereinen können. Egal, wie man es macht, es wird Kritik geben, weil sich ein Teil nicht angesprochen oder gar beleidigt fühlt. In der Schriftsprache reden wir lieber von Menschen mit Beeinträchtigung oder Menschen mit Behinderung anstatt von Behinderten.

Wie lässt sich verhindern, dass die World Games nur ein kurzzeitiges Hoch an Aufmerksamkeit bringt, das schnell wieder verflacht? So wie es in anderen Bereichen der Sportwelt oft zu sehen ist?

Häufig war es ein Fehler bei Sportveranstaltungen, diese Einzigartigkeit des Events zu betonen. Das Event ist dann mit dem Feuer erloschen - und dann war's weg. Es gibt klare Ideen, was in den Jahren 2024 und 2025 passieren muss. Da ist von Anfang an mitgedacht worden: nicht nur auf Berlin den Fokus zu legen, sondern auf bundesweit 216 Host-Town-Kommunen. Die mussten sich vor zwei Jahren bewerben und ein Konzept vorlegen, was sie in den anderthalb Jahren vor den Weltspielen inklusiv entwickeln wollen. Das bedeutet: 216 Kommunen sind schon deutlich inklusiver geworden. Da sind Begegnungen geschaffen worden, Netzwerke entstanden. Es gibt wahnsinnig viele Jugendprojekte, Schulprojekte, Fortbildungsangebote.

Der Trainer muss klar sagen: 'Hier, schau, du bist der Rote.'

Tom Hauthal

Wie lässt sich die Integration von behinderten Menschen in Sportvereine verbessern? Ist es realistisch, dass das schon kurzfristig gelingt?

Meine eigene Erfahrung: Man muss gar nicht so viel adaptieren in seinem Trainingsablauf, um die Menschen zu integrieren. Natürlich ist es klar, dass man, wenn man mit Menschen mit geistiger Behinderung, Autismus, Down-Syndrom etc. noch nie in Berührung gekommen ist, als Trainer erst mal Respekt hat. Man könnte aber in die Trainerausbildungen eine Praxiseinheit mit unseren Athletinnen und Athleten einbauen. Wichtig ist, dass man die Erwartungshaltung abbaut, die oft herrscht: 'Oh, da kommt jetzt jemand, der noch mehr Betreuung braucht und sportlich sowieso nicht auf unserem Niveau landen wird.' Das ist nämlich nicht so. Man denkt oft, dass bei Special Olympics die nicht behinderten Menschen die besseren Sportler sind. Das ist sehr selten der Fall. Leistungsmäßig hält sich das die Waage.

Special Olympics 2023 (Tag 2), Fußball auf dem Maifeld, Deutschland vs. USA (Männer), im Bild: Flavio Roma (Deutschland) jubelt nach Tor zum 1:0, 18.06. 2023, *** Special Olympics 2023 day 2 , soccer on the Maifeld, Germany vs USA men , in picture Flavio Roma Germany cheers after goal to 1 0, 18 06 2023, Copyright: xSebastianxRäppold MatthiasxKochx

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Welche Rolle spielt dabei Leichte Sprache und wie kann sich diese aneignen?

Nutzen Sie einfach Umgangssprache. Wenn ein Athlet etwas nicht versteht, erkläre ich es nochmal mit anderen Worten, und dann wird er es verstehen. Spätestens beim dritten Mal. Und generell: Bildsprache nutzen, viel zeigen. Bei einer Taktikbesprechung braucht der Trainer unseren Athleten nicht mit 12er-Schriftgröße einen Taktik-Spielzug im Handball hinlegen. Er muss es zeigen, er muss es einzeichnen. Er muss klar sagen: 'Hier, schau, du bist der Rote.' Das dauert auch gar nicht länger. Übrigens kann Leichte Sprache allen Menschen im Alltag helfen.

Wie genau?

Wenn ich Gesetzestexte lesen muss, lese ich übrigens nur noch die Leichte Sprache. Denn die verstehe ich. Das kann ich allen nur empfehlen: Wenn Sie mal irgendeinen Antrag oder so brauchen, für Elterngeld zum Beispiel: Lesen Sie ihn in Leichter Sprache - und Sie verstehen, was gemeint ist.

Entweder sie können Mitglieder aufnehmen oder sie können es nicht.

Tom Hauthal

Das heißt: Es braucht für Menschen mit Behinderung gar nicht unbedingt mehr Betreuer und mehr Anleitung in Vereinen?

Das denken die Vereine. Man muss die Barrieren der Unwissenheit abbauen. Der Gedanke ist: Ich brauche mehr Menschen, weil die ja einen erhöhten Betreuungsbedarf haben. Aber das ist im Alltag des Sports nicht so. Wenn geistig behinderte Menschen die Übung dreimal gesehen haben, dann kennen sie die. Das ist super zu erleben: Ich habe in einer Unified-Fußballmannschaft mitmachen dürfen, und da haben die sich von jetzt auf gleich untereinander geholfen: mal der Unified Partner dem Athleten, mal der Athlet dem Partner. Du brauchst gar nicht mehr den Trainer, der da vorne steht, sondern du musst einfach ein gutes Mannschaftsgefüge bilden.

Was können engagierte Menschen konkret tun, um geistig behinderte Kinder und Jugendliche in die Vereine zu holen?

Im ersten Schritt: Wenn jemand vor der Tür der Halle steht und fragt: 'Hey, kann ich bei euch in der Trainingsgruppe mitmachen?', dass man dann Ja sagt - oder zumindest: 'Wir versuchen es'.

Geistig behinderte Menschen werden von den Vereinen bisher also teilweise abgewiesen?

Das gab es in der Vergangenheit sehr häufig, ja. Und da muss man vorsichtig sein: Das ist nicht, weil der Verein unmotiviert ist oder die handelnden Personen keine Ahnung haben. Sondern weil diese Unwissenheit herrschte: 'Sorry, wir haben während der Pandemie schon zwei Trainer verloren, wir können euch nicht aufnehmen.' Das war der Grundtenor. Aber das ist ja nicht richtig: Entweder sie können Mitglieder aufnehmen oder sie können es nicht. Aber die einen aufzunehmen und die anderen nicht, obwohl die gar nicht mehr Betreuungsbedarf brauchen, das ist nicht okay.

Interview: Paul Bartmuß und Thomas Müller

Timothy Shriver (l-r), Vorsitzender Special Olympics International, spricht neben Christiane Krajewski, Präsidentin Special Olympics Deutschland, Kai Wegner (CDU), Regierender Bürgermeister von Berlin, und Sven Albrecht, Geschäftsführer der Special Olympics World Games Berlin 2023, bei der Auftakt-Pressekonferenz der Special Olympics World Games Berlin 2023. Die Spiele beginnen mit der Eröffnungsfeier am Samstag (17. Juni) im Berliner Olympiastadion.

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