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Wie Stade Rennes zu Europas Talentschmiede wurde

Ausbildungsverein von Dembelé, Camavinga und Rutter

Das Anti-Hollywood: Wie Stade Rennes zu Europas Talentschmiede wurde

Drei mit außergewöhnlichem Talent: Jeremy Doku, Ousmane Dembelé und Eduardo Camavinga im Trikot von Stade Rennes.

Drei mit außergewöhnlichem Talent: Jeremy Doku, Ousmane Dembelé und Eduardo Camavinga im Trikot von Stade Rennes. imago images (3)

Dem "neuen Ronaldo" hat Stade Rennes seine Identität zu verdanken. Der "neue Ronaldo" war der größte Transfer-Flop der Vereinsgeschichte.

150 Millionen Francs (gut 21 Millionen Euro) war dem damaligen Mittelklasseklub im Jahr 2000 der brasilianische Mittelstürmer Lucas Severino wert gewesen, den Inter Mailands Präsident Massimo Moratti seinerzeit zum Nachfolger seines damaligen Stürmers auserkoren hatte. 72 Ligaspiele mit ganzen sechs Toren später wurde Severino nach Japan abgegeben - und die Vereinsphilosophie damit gleich mit.

Dembelé, Camavinga, Rutter: Talente am laufenden Band

Ausdruck des Erfolgs ist es irgendwo, dass Severino noch bis 2020 der teuerste Einkauf der Vereinsgeschichte blieb. Noch mehr ist es wahrscheinlich die starke Saison, die der aktuelle Tabellenvierte momentan in der Ligue 1 und in der Europa Conference League spielt. Und am meisten ist es der Blick auf die Abgänge der vergangenen Jahre.

Ousmane Dembelé wurde zu einem der teuersten Spieler der Welt, Eduardo Camavinga zum Thronfolger bei Real Madrid, Tiemoué Bakayoko beim Weiterverkauf zum FC Chelsea zum Millionengeschäft für die AS Monaco, Edouard Mendy zum Garanten bei Chelseas Champions-League-Sieg. Aktuell gilt der ebenfalls nach Monaco verkaufte Sofiane Diop als Frankreichs großes neues Spielmacher-Talent, Georginio Rutter schwingt sich bei Hoffenheim zu einem der Shooting Stars der Bundesliga auf - und in England hat sich Ismaila Sarr beim FC Watford angeblich in den Fokus des FC Liverpool gespielt. Bis auf Mendy stammen alle aus Rennes' Jugend-Akademie.

Mehr als fünf Erstligaspieler pro Junioren-Jahrgang

Insgesamt, rechnete die "L'Equipe" vor, haben es alleine zwischen 2014 und 2020 satte 34 Spieler aus dem Nachwuchsbereich von Rennes in den Kader eines Vereins der Ligue 1 geschafft. Das macht eine fast schon unheimliche Quote von mehr als fünf künftigen Erstligaspielern pro Jahrgang.

In der selbsternannten "League of talents", in der die Vereine auf ihre Jugendarbeit angewiesen sind, ist Rennes das Vorbild, dem viele andere französische Klubs nacheifern. Auch ohne eine große Stadt wie Paris, Lyon oder Marseille als demografische Triebfeder ist der Verein aus der kleinen Universitätsstadt in den vergangenen Jahren - gemessen an der Größe des Klubs - zur wohl erfolgreichsten Talentschmiede in ganz Europa geworden. Und das hat eben mit Lucas Severino zu tun.

1998 kaufte der bretonische Multimilliardär Francois Pinault über seine Finanzholding Artemis den Verein und tat zunächst genau das, was reiche Eigentümer mit Fußballvereinen rund um die Jahrtausendwende so taten: Er pumpte Geld hinein, wollte das Vereinsimage der grauen Maus mit Luxus-Transfers aufhübschen und kaufte reihenweise Südamerikaner. Der Erfolg dieser Herangehensweise: auf einer Skala von 1 (Lucas Severino) bis 10 (Ronaldo) eher nicht zweistellig.

Nun wäre Pinault vermutlich nicht der drittreichste Mann Frankreichs geworden, wenn er nicht wissen würde, wie man Verlustgeschäfte abfängt. Und so entschloss er sich 2002 zu einem radikalen Paradigmenwechsel: weniger Südamerika, mehr Bretagne. Er vervierfachte das Budget für die Jugendarbeit, das seitdem konstant zwischen sieben und zehn Prozent des Gesamt-Etats liegt. Zum Vergleich: Laut DFL-Report lag der Durchschnittsaufwand der Bundesliga-Klubs im Jahr 2020 bei unter vier Prozent.

Gucci, Balenciaga, Puma - und Stade Rennes

"Das Nachwuchsleistungszentrum ist das Herzstück unserer Strategie", sagte Vereinspräsident Nicolas Holveck 2020 in der "L'Equipe". "Wir setzen auf unsere jungen Spieler, um voranzukommen." In Frankreich gibt derzeit nur Paris St. Germain - aus bekannten Gründen - mehr Geld für das Nachwuchsleistungszentrum aus.

Pinaults ambitioniertes Ziel vor knapp 20 Jahren: Die Hälfte des Profi-Kaders soll aus der eigenen Akademie kommen, wenn möglich sogar aus der Bretagne. Die Geschäfte übergab er schon kurze Zeit später an seinen Sohn Francois-Henri. Dem gehören als Inhaber und CEO des Kering-Imperiums die Marken Gucci, Balenciaga, Puma - und eben Stade Rennes. Er ist verheiratet mit Schauspielerin Salma Hayek und hat ein Kind mit Model Linda Evangelista.

Francois-Henri Pinault, Salma Hayek

Der Gönner und die Gattin: Francois-Henri Pinault (li.) mit Ehefrau Salma Hayek im Roazhon Park. Getty Images

Ein Mann mit Hang zur Extravaganz, könnte man meinen. Doch "FHP", wie er in Frankreich genannt wird, ist eben kein Mann des Blitzlichtgewitters. Interviews gibt er selten, die Tribüne des eher schmucklosen Roazhon Park in Rennes ziehe er dem Roten Teppich vor, heißt es.

So verwundert auch das Festhalten an der Philosophie seines Vaters nur auf den ersten Blick. Die Sternchen hervorbringen, bevor sie an anderer Stelle zu großem Ruhm kommen: Ausgerechnet Pinault, der Luxus-Boss und Glamour-Gatte, hat seinen Heimatverein zum Anti-Hollywood gemacht.

Als Rennes 2019 im Finale des Coupe de France das favorisierte PSG schlug und damit nach 48 Jahren Wartezeit wieder einen Titel gewann, ließ sich "FHP", der im Tagesgeschäft zumeist im Hintergrund bleibt, dann doch mal zu einem Statement hinreißen: "Als wir den Klub 1998 übernahmen, sagte mein Vater: 'Wir machen das, um der Bretagne das zurückzugeben, was sie uns gegeben hat.'" Musik in den Ohren der Fans, die eine Woche später beim Heimspiel gegen Monaco Gesänge für den Gönner anstimmten: "Francois Pinault est rouge et noir". Francois Pinault ist rot und schwarz.

Kein Stammspieler über 30

Die Investitionen machten sich - wie so oft im Leben von Pinault senior und junior - schon vor dem ersten Titel bezahlt. Ab 2006 wurde Rennes' Nachwuchsleistungszentrum sechsmal in Folge als beste Akademie des Landes ausgezeichnet. Alleine die Erlöse für Yoann Gourcuff, Stephane Mbia oder Yann M'Vila überstiegen bei weitem die Kosten für die Ausbildung. Und das war noch lange vor Dembelé und Camavinga. 

Aktuell liegt Rennes auf Kurs, die möglicherweise beste Saison der Vereinsgeschichte zu spielen. Nur zwei Punkte trennen die Bretonen aktuell von Tabellenplatz zwei, sie blieben in der Vorrunde der Conference League - auch nach Spielabsage gegen Tottenham - ungeschlagen. Die Mannschaft von Trainer Bruno Genesio spielt attraktiven Offensivfußball, alle Stammspieler sind unter 30.

Jeremy Doku

"The Next Big Thing"? Jeremy Doku ist das wohl größte Talent in Rennes' aktuellem Kader. imago images/PanoramiC

Trotzdem ist der Wunsch von Pinault senior nicht ganz in Erfüllung gegangen. "Nur" neun der aktuell 28 Lizenzspieler wurden im Verein ausgebildet - keiner von ihnen ist älter als 21. Die großen Talente muss Rennes auch weiterhin eher früher als später abgeben - und zwar nicht nur nach Dortmund, Madrid oder London, sondern auch nach Sinsheim, Watford oder Udine.

Dafür haben die teuren Verkäufe von Camavinga, Sarr und Mendy in den vergangenen Jahren so viel Geld in die Kassen gespült, dass zuletzt kräftig reinvestiert wurde. Etwa in den Kroaten Lovro Majer (23), der seit seinem Wechsel aus Zagreb im Sommer sofort das Zepter im Mittelfeld übernommen hat und nun schon bei größeren Vereinen auf dem Zettel steht. Oder in Außenstürmer Kamaldeen Sulemana (19), den Bayer 04 Leverkusen im vergangenen Winter aus Nordsjaelland holen wollte, der jetzt aber in Rennes sein enormes Potenzial andeutet.

Das nach Camavingas Abgang wohl größte Talent im Kader hat zum Erfolg der laufenden Saison sogar kaum etwas beitragen können. Jeremy Doku (19), 2020 aus Anderlecht gekommen, verlangte im EM-Viertelfinale im Sommer der Abwehr des späteren Titelträgers Italien mehr ab als die meisten etablierten Stars im Turnierverlauf, konnte in der laufenden Saison verletzungsbedingt aber noch gar nicht Fahrt aufnehmen.

Sollte der absehbare Fall eintreten und Doku sein Potenzial in Rennes zeigen, dürfte es für die potenziell kaufkräftigen Abnehmer nicht billig werden. Schließlich legten die Bretonen selbst im vergangenen Jahr 26 Millionen für den Tempodribbler hin.

Mehr kostete ein Transfer für sie zuletzt im Jahr 2000. Und auf einen "neuen neuen Ronaldo" kann Rennes vermutlich verzichten. Außer es braucht mal wieder eine neue Identität.

Michael Bächle