Bundesliga

Boetius im Interview: "Ich kann nicht ständig traurig zu Hause sitzen"

kicker im Gespräch mit dem derzeit arbeitslosen Profi

Boetius im Interview: "Ich kann nicht ständig traurig zu Hause sitzen"

Derzeit ohne Verein und wie er über die Lage als arbeitsloser Profi denkt: Jean-Paul Boetius.

Derzeit ohne Verein und wie er über die Lage als arbeitsloser Profi denkt: Jean-Paul Boetius. IMAGO/Eibner

Dass hinter Jean-Paul Boetius ein Jahr voller privater und beruflicher Rückschläge liegt, ist dem Niederländer nicht unbedingt anzusehen. Der offensive Mittelfeldspieler ist vereinslos, trotzdem trägt er eine Trainingsjacke. Nach 143 Bundesligaspielen (zwölf Tore) für Mainz und Hertha, sechs Auftritten mit Feyenoord 2017/18 in der Champions League und sogar einem Spiel im Nationalteam wartet er auf eine neue Aufgabe.

Herr Boetius, Sie haben Ihre Karriere offenbar noch nicht beendet.

Nein, ganz und gar nicht. Ich halte mich hier in Rotterdam bei der TIFA Football School fit, dort kann man Einzeltraining machen, ein paar niederländische Profispieler trainieren dort auch.

Sind Sie aktuell der prominenteste Trainingsgast?

Ja, ich denke schon (lacht). Aber ich bin auch aktuell der einzige, der ohne Verein ist.

Dies steht am Ende einer Liste, die sich für Sie nicht besonders schön liest. Am 22. September 2022 wurde bei Ihnen Hodenkrebs diagnostiziert, am 6. März dieses Jahres brachen Sie sich die Schulter, im Mai stiegen Sie mit Hertha BSC aus der Bundesliga ab und sind nun arbeitslos. Hat dieses Jahr Spuren bei Ihnen hinterlassen?

Es war auf jeden Fall nicht einfach, das muss ich schon so sagen. Gerade die aktuelle Phase ist nicht ganz ohne. Anfangs fühlte es sich noch ganz normal wie Urlaub an, mittlerweile ist es mehr. Klar, es geht mir finanziell gut, ich kann bei meiner Familie sein, aber das, was ich mein ganzes Leben schon liebe, den Fußball, kann ich momentan nur sehr begrenzt spielen. Das tut schon weh.

Stärker als der Augenblick, als Ihnen gesagt wurde, dass Sie Krebs haben?

Das war anders. Die Gesundheit ist für jeden Menschen das Wertvollste. Das Wort Krebs hat bei mir natürlich erst mal etwas ausgelöst. Mein Glück war, dass schnell klar war, dass es nicht so schlimm ist. So konnte ich rasch die Dinge sehr positiv sehen, was einfach auch meinem Naturell entspricht. Auch wenn es mal nachdenkliche Momente gibt: Mein Lachen habe ich nicht verloren.

Sind Sie mit Ihrer positiven Art in den vergangenen Monaten dennoch mal an Grenzen gestoßen?

Natürlich war ich auch mal traurig, etwa beim Abstieg mit Hertha. Das will kein Fußballspieler erleben, und trotzdem versuche ich immer, das Beste auch aus negativen Situationen zu machen. Ich habe eine kleine Tochter, eine Freundin, ich kann jetzt hier nicht ständig traurig zu Hause sitzen.

Ist die Freundin noch nicht genervt von Ihnen?

Nein, unsere Wohnung ist groß genug (lacht).

Sind Sie nach all den Erfahrungen heute ein anderer Mensch?

Das denke ich schon. Jeder Mensch wächst mit den Erfahrungen, die er im Leben macht. Bei mir waren es jetzt sehr einschneidende Erlebnisse, aus denen ich lerne. Ich mache einfach noch mehr, lebe in allen Bereichen noch intensiver, weil ich glaube, dass dies am Ende belohnt wird.

Natürlich gucken auch die Klubs auf die Daten und sehen, dass ich in der letzten Saison kein Tor, keine Vorlage hatte. Das ist mir, glaube ich, noch nie passiert.

Jean-Paul Boetius

In Berlin haben Sie Ihren Vertrag nach dem Abstieg aufgelöst statt in die 2. Liga mitzugehen. Dieser Schritt wurde bislang nicht belohnt.

Ich hatte nicht geglaubt, dass es so lange dauert, bis ich wieder einen neuen Klub habe. Es gab diverse Interessenten aus verschiedenen Ländern. Ich weiß nicht, vielleicht war ich bei der Auswahl zu kritisch, aber natürlich gucken auch die Klubs auf die Daten und sehen, dass ich in der letzten Saison kein Tor, keine Vorlage hatte. Das ist mir, glaube ich, noch nie passiert.

War es aus heutiger Sicht ein Fehler, den Vertrag in Berlin aufzulösen?

Nein, ich stehe hinter jeder Entscheidung, die ich getroffen habe.

Auch im Sommer 2022 waren Sie erst spät zu Hertha gewechselt und vorher für rund einen Monat vereinslos. Sind Sie ein Zocker?

Nein, so würde ich es nicht beschreiben. Ich habe jetzt nicht gewartet, um irgendwie noch irgendein besseres Angebot zu erhalten. Nur wenn ich bei einem Klub nicht das hundertprozentige Gefühl habe, dass es passt, dann wäre es nicht gut von mir, trotzdem dort zu unterschreiben. Das wäre nicht ehrlich, wenn ein Verein mir vertrauen würde, ich aber ihm nicht vollends.

Jean-Paul Boetius gegen Joshua Kimmich

Letztes Jahr noch gegen die ganz Großen: Jean-Paul Boetius gegen Joshua Kimmich. picture alliance / kolbert-press

Was vermissen Sie derzeit am meisten?

Diesen positiven Stress, der sich vor einem Spiel aufbaut, das Kribbeln, die Nervosität, das fehlt mir.

Und was fehlt Ihnen gar nicht?

Verletzungen, ganz klar.

Wie sieht nun Ihr Alltag ohne den Berufsfußball aus?

Gar nicht so groß anders als vorher. Wir wachen zusammen auf, frühstücken und spielen ein bisschen, dann gehe ich zum Training. Einmal am Tag, manchmal zweimal. Wir kochen, gehen essen, treffen uns mit Freunden, die auch fast alle Kinder haben. Der große Unterschied ist: Am Wochenende bin ich nicht unterwegs.

Wie fit sind Sie? Könnten Sie sofort irgendwo wieder einsteigen?

Ich würde sagen, ich bin fit, aber es gibt schon noch einen Unterschied zwischen Einzel- und Mannschaftstraining, und auch die Spielpraxis wird fehlen. Ich mache aber alles: Sprints, Distanzläufe, Krafttraining. Ich kann mich nicht hängen lassen, mein Kopf und mein Körper sagen mir: Du bist noch nicht fertig. Wenn ich mich jetzt gehen lassen würde, wäre es das Ende für meine Karriere. Keine Sorge: Ich würde nicht mit einem dicken Bauch bei einem neuen Klub auflaufen (lacht).

Letztes Jahr hatten Sie sich vor Ihrem Wechsel nach Berlin bei Ex-Klub Feyenoord fit gehalten. Dies war jetzt nicht möglich?

Das wollte ich nicht, sonst wird das noch zu einer Routine.

War der Wechsel nach Berlin der falsche Schritt für Sie?

So denke ich nicht. Ich war vier Jahre in Mainz, eigentlich wollte ich ins Ausland, es gab Gespräche mit Klubs aus England und Portugal. Am Ende wurde es Hertha BSC, und jeder weiß, dass dies eng mit Trainer Sandro Schwarz zusammenhing. Ihn kannte ich aus Mainz, er rief mich an, da konnte ich nicht Nein sagen. Es war kein Topjahr für mich und für Hertha schon gar nicht, aber es war auch keine Fehlentscheidung. Niemand gibt mir die Garantie, dass es woanders besser gelaufen wäre.

Starren Sie jetzt häufiger aufs Handy in der Erwartung, dass sich ein Klub meldet?

Das ist jetzt weniger geworden, in den ersten Wochen war ich schon noch unruhiger. Jetzt nehme ich die Situation so, wie sie ist - anrufen kann mich trotzdem jeder (lacht). Es melden sich tatsächlich viele Mitspieler von früher und fragen, warum ich keinen Klub habe.

Gucken Sie viel Fußball?

Ja, sehr viel, vor allem Spiele in England und Deutschland. Da kribbelt es manchmal in den Füßen, weil ich das Gefühl habe, dass ich fast jeder Mannschaft etwas geben könnte.

Was schauen Sie eher: Mainz oder Hertha?

Eigentlich fast nur 1. Liga, die 2. Liga nur selten. Und wenn, dann meistens den HSV, da spielt mit Robert Glatzel ein Kumpel von mir. Hamburg ist einfach auch ein geiler Klub, die Stimmung ist gut, die Spiele sind attraktiv.

Das klingt ja fast wie eine Bewerbung …

Nein, so soll’s nicht klingen (lacht).

Haben Sie, auch aufgrund Ihrer Erkrankung im Vorjahr, noch zu keinem Zeitpunkt an ein Karriereende gedacht?

Nein, niemals. Sicher auch, weil die Erkrankung bei mir nicht so schlimm war wie für Timo Baumgartl oder Sebastien Haller, die es deutlich härter getroffen hatte.

Sie sind 29 …

… und eigentlich heißt es, jetzt ist man im besten Fußballeralter. Ich werde deswegen nicht ungeduldig. Nehmen wir Karim Benzema, den fand ich mit Mitte 30 bei Real Madrid besser als mit Ende 20.

Träumen Sie noch von der Premier League?

Ja, dieser Traum lebt immer noch. Tief in meinem Herzen spüre ich jedenfalls, dass das noch mal passieren wird.

Haben Sie eigentlich einen Lieblingsklub?

Den FC Arsenal habe ich immer geliebt, ein geiler Klub. Leider haben sie aktuell keinen Bedarf (lacht).

Sandro Schwarz und Jean-Paul Boetius

Funken auf einer Wellenlänge: Sandro Schwarz und Jean-Paul Boetius. IMAGO/Contrast

Wird der nächste Klub von Sandro Schwarz auch Ihr neuer Verein?

Wenn es so einfach wäre … So erfolgreich lief das ja nicht mit uns in Berlin, vielleicht hat er jetzt keinen Bock mehr auf mich (lacht). Aber er ist ein Top-Trainer. Ich wünsche ihm, dass er auch schnell wieder einen Job hat.

Wann sehen wir Sie wieder im Stadion?

Puh, da muss ich mal mit einem Zauberer reden (lacht). Ich hoffe, so schnell wie möglich, ich kann es eigentlich kaum erwarten. Spätestens zur Rückrunde will ich wieder spielen.

Interview: Thomas Hiete

Coulibaly der Jüngste: Zahlreiche Ex-Bundesliga-Profis sind noch vereinslos