Gut zehn Monaten nachdem sich Florian Wirtz am 13. März 2022 ausgerechnet gegen seinen Ausbildungsklub 1. FC Köln bei der 0:1-Niederlage im Nachbarschaftsduell in der Bay-Arena das vordere Kreuzband im linken Knie gerissen hat, steht der deutsche Nationalspieler am Sonntag (17.30 Uhr, LIVE! bei kicker) vor seiner Rückkehr auf die Bundesliga-Bühne. Wieder in einem Derby. Diesmal in Mönchengladbach.
Bundesliga, 16. Spieltag
Dem 19-Jährigen fällt dabei die Rolle des ganz großen Hoffnungsträgers zu. Schließlich verlief die Saison ohne ihn bislang dramatisch schlecht für den Werksklub: Erstrunden-Aus im DFB-Pokal, Platz 12 in der Liga und in der Champions League reichte es in der Gruppenphase nur zu Rang 3 und damit für die Play-offs der K.-o.-Runde der Europa League.
Mit ihm sind wir eine bessere Mannschaft.
Xabi Alonso
Mit Wirtz soll jetzt alles besser werden. Und mit Wirtz wurde es in der Vorbereitung auch besser - man ist geneigt zu sagen: nur durch Wirtz. Schon vor dem ersten Pflichtspiel mit dem Rückkehrer scheint Bayer 04 von dem torgefährlichen Kreativspieler abhängig zu sein. Daraus machen weder Trainer noch Mitspieler einen Hehl.
Xabi Alonso adelte den Rechtsfuß bereits frühzeitig in der Wintervorbereitung als "Unterschiedsspieler" und stellte nun auch vor der Partie in Gladbach fest: "Er hat unser Spiel zwischen den Linien verbessert. Er hat diese spezielle Qualität." Als Ankurbler, Ideengeber und Abschlussspieler in einer Person. "Mit ihm", gibt der Spanier unumwunden zu, "sind wir eine bessere Mannschaft."
Tah fordert Geduld, kann die Vorfreude aber nicht verbergen
Bayers Abhängigkeit von Wirtz stellte auch Abwehrspieler Jonathan Tah nicht infrage, nachdem der Offensiv-Künstler in der Generalprobe gegen Kopenhagen (1:0) quasi im Alleingang für die Inspiration im Bayer-Spiel gesorgt hatte. "Wir sind ja froh, dass er uns so sehr helfen kann. Er ist einfach brutal wichtig", urteilte Tah offen.
Natürlich erbitten sie in Leverkusen alle Geduld mit dem Ausnahmetalent. "Es hängt nicht nur an Florian", sagt sein Trainer. Und auch Tah plädiert für Augenmaß, auch wenn Wirtz zuletzt schon so stark aufspielte: "Trotzdem ist es lange her, dass er Pflichtspiele gemacht hat. Ich wünsche mir einfach, dass er seine Zeit bekommt und nicht zu viel erwartet wird, er nicht zu sehr unter Druck gesetzt wird. Damit er gut reinkommen kann mit seiner Qualität."
Doch im Fall Wirtz scheinen selbst die üblichen Tritte auf die Euphoriebremse unangebracht, wie Tah selbst in seinen Ausführungen bemerkte. So setzte der Nationalspieler sein breitestes Grinsen auf und fügte an: "Aber ich habe das Gefühl, dass er schon wieder relativ gut drin ist."
Belebte Bayer-Offensive in den Testspielen
Das kann man wohl sagen. Im letzten Test gegen Kopenhagen drehte sich in Bayers Offensive bereits alles um den Leverkusener Topstar. Mit welchem Instinkt er den Ball mit dem ersten Kontakt gewinnbringend mitnimmt. Mit welcher Präzision und welchem Gefühl für Raum und Zeit er die eine Abwehr zerschneidenden Pässe spielt. Und auch mit welcher Lust sich der 19-Jährige nach Ballverlusten direkt auf die Jagd nach dem Gegner macht - Wirtz inspiriert die Werkself jetzt schon wieder auf allen Ebenen.
Der Junge hat einfach Bock zu kicken, reißt Zuschauer wie Kollegen mit - und das Spiel an sich. In den Vorbereitungspartien gegen den FC Zürich (4:1), den FC Venedig (2:1) und Kopenhagen war der Nationalspieler an fast allen gefährlichen Situationen beteiligt, solange er auf dem Platz stand. Dem eher mauen Kick gegen die Dänen verlieh der Straßenfußballer im Alleingang die künstlerische Note.
Wirtz alleine schützt nicht vor spielerischer Tristesse
In Wirtz‘ herausragender sportlichen Rolle liegen Chancen wie Risiken für Bayer 04 zugleich. Kann der Kreativspieler die jüngsten Eindrücke auch in der Liga dauerhaft bestätigen, wird er dem Leverkusener Spiel einen deutlichen Qualitätssprung ermöglichen. Doch ohne diesen Input - diesen Eindruck gewann man eben gegen Kopenhagen auch - könnte die spielerische Tristesse von vor der Winterpause zurückkehren.
Die ganz große spielerische Entwicklung von der defensiven und auf Konter angelegten Herangehensweise nach Xabi Alonsos Amtsübernahme Anfang Oktober zu einer aktiveren Spielweise ist bislang auch in der Wintervorbereitung kaum sichtbar geworden. Wirtz kann nicht alleine für ein höheres Niveau sorgen, wenn es um Pressing, Gegenpressing und Ballbesitzfußball geht. Dafür braucht es ein harmonierendes Orchester, keinen wenn auch noch so herausragenden Alleinunterhalter.
In Gladbach wird dieser Aspekt gegen die heimstarke und durchaus offensiv ausgerichtete Fohlenelf nicht zwingend negativ durchschlagen. Vielmehr könnte das allerdings bereits ausgezeichnet funktionierende Konterspiel des Werksklubs greifen. Besonders, wenn Wirtz wieder als so verlässlicher Katalysator für das Umschaltspiel funktioniert.
"Er ist fit, um von Anfang an zu spielen"
Dass dieser körperlich gerüstet ist, deutete er gegen Kopenhagen an, als er mit 80 Minuten erstmals nach seiner Verletzung länger als eine Hälfte mitmachte und offensichtlich noch mehr im Tank hatte. "Er ist fit, um von Anfang an zu spielen", wusste sein Trainer am Freitag zu berichten.
Was er nicht sagen kann ist, wie Wirtz mit Tempo und Spielintensität einer Bundesligapartie nach zehnmonatiger Abstinenz zurechtkommt. Weniger läuferisch, sondern eher in punkto Zweikampfführung, wenn er deutlich härter attackiert werden dürfte als in den Testspielen.
An der hohen Erwartungshaltung von außen dürfte der Jungstar bei seinem Pflichtspiel-Comeback hingegen nicht scheitern, da er die Fähigkeit besitzt, sich von äußeren Einflüssen weitestgehend freizumachen. "Für ihn ist es normal, Druck zu haben", sagt Xabi Alonso.
Während der Druck für Wirtz‘ in erster Linie von diesem selbst und seinem immensen Ehrgeiz kommt, ergibt sich dieser für den Klub als Champions-League-Anwärter aufgrund der eigenen Ansprüche schon allein aus dem Tabellenbild. Bereits in Gladbach muss sich zeigen, ob Rückkehrer Florian Wirtz als Soforthilfe für das ambitionierte Projekt ausreicht.