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Kommentar zum Ungarn-Spiel: Löws Mannschaft bleibt eine Baustelle

Kommentar

Wild, konfus, zittrig - Löws Mannschaft bleibt eine Baustelle

Erlösung oder Verzweiflung? Joachim Löw erlebte gegen Ungarn beide Gefühlswelten.

Erlösung oder Verzweiflung? Joachim Löw erlebte gegen Ungarn beide Gefühlswelten. Getty Images

Die erste Kurzanalyse fand gleich nach dem Abpfiff auf dem Rasen statt. Joachim Löw sprach aufgeregt und gestenreich auf seine Assistenten Marcus Sorg und Andreas Köpke ein. Der Bundestrainer wirkte gestresst. Erst zehn Minuten zuvor hatte ihn Leon Goretzka mit einem Gewaltschuss vor dem jähen und in diesem Falle schmählichen Abbruch seiner 15 Jahre währenden Tätigkeit als Bundestrainer bewahrt.

Schlussphase: Gebolze wie auf dem Dorfsportplatz

Was auf diesen Ausgleich folgte, war eine wilde, konfuse, zittrige Verteidigung dieses 2:2-Gleichstandes, der der deutschen Nationalmannschaft Platz zwei in der Gruppe F und damit die Zulassung zum Achtelfinale rettete. Da wurden die Bälle wie auf dem Dorfsportplatz in die Luft geschossen oder einfach nach vorne gebolzt, Hauptsache weg vom eigenen Kasten. Hauptsache weiterkommen, so die spürbare Parole. Der Erfolg heiligte die spröden Mittel.

Der Mindestauftrag für diese EM ist damit erfüllt in dieser starken Gruppe mit dem Weltmeister Frankreich und dem Europameister Portugal. In den drei Heimspielen in München bot die DFB-Auswahl - das Positive zuerst - eine mitreißende Vorstellung gegen allerdings in der Abwehr wenig kompakte Portugiesen, während sie gegen Frankreich beim 0:1-Auftakt keine Chance hatte und nun gegen Ungarn das Glück der Willensstarken bemühten. Immerhin stimmte die Moral.

Sané: Falsche Positionierung und tölpelhafte Defensivaktionen

Spielerisch und taktisch muteten Löw und seine Mannschaft in dieser dritten Gruppennummer sich und dem Publikum das Gegenteil der 4:2-Show vom vergangenen Samstag zu. Zunächst wurde die Planstelle des zunächst geschonten Thomas Müller falsch besetzt: Leroy Sané fühlt sich auf dem rechten Flügel wohler, wie er im zweiten Durchgang in allerdings ganz wenigen Ansätzen andeutete. Seine insgesamt schwache Leistung mit einigen irren Einlagen - Eckball von rechts zur Eckfahne nach links und dort ins Seitenaus oder seine gut gemeinten, aber tölpelhaften Bemühungen nach hinten - lässt sich mit der Position allein allerdings nicht begründen.

Auch die Auswechslung von Kai Havertz just unmittelbar nach dessen Tor zum 1:1-Ausgleich war eine absonderliche Personalentscheidung des Bundestrainers, der das Finale mit seinen sehr späten Einwechslungen doch noch positiv beeinflusste: Leon Goretzka, Thomas Müller, Jamal Musiala und Timo Werner sorgten im Staubereich vor und in der Abwehrwand der aufopferungsvollen Ungarn für wenigstens etwas Chaos, schließlich für den erlösenden Ausgleich.

Die Mannschaft weiter im Findungsprozess

Dennoch bleibt diese Mannschaft die Baustelle, die sie schon vor dem Turnier war. Die Defensive leistet sich weiterhin schreckliche Patzer, selbst von Torhüter Manuel Neuer geht nicht die gewohnte Souveränität aus: Wie beim zweiten Treffer der Portugiesen traf er nun beim 2:2 der Ungarn nicht die richtige Entscheidung, als er aus dem Kasten rannte. Einige seiner Kollegen schwanken zu sehr in ihren Leistungen: Spielte der bisher kein einziges Mal überzeugende Serge Gnabry überhaupt mit? Oder Ilkay Gündogan, mit seiner Technik eigentlich ein Spezialist für enge Räume? Welchen Job hatte der stets freie, aber nur in der Nähe der Mittellinie herumstehende Antonio Rüdiger? Wo war der tolle Robin Gosens vom Portugal-Spiel abgeblieben? Viele Fragen, die schnelle Antworten verlangen. Zumindest Joshua Kimmich wies nach, warum er sich als Sechser begreift.

Die Pflicht ist getan, der Findungsprozess aber längst nicht abgeschlossen.

Fifty-Fifty gegen England

Im Achtelfinale warten nun die Engländer im heimischen London. Wo die deutsche Mannschaft in drei Begegnungen schon fünf Tore akzeptieren musste, steht bei den Briten die Null. Stabil erscheint diese englische Auswahl dennoch nicht, nach vorne tut sie sich schwer, wie erst zwei Treffer beweisen. Deshalb stehen die Chancen für die deutsche Mannschaft trotz des ernüchternd schwachen Vortrags gegen Ungarn am kommenden Dienstag in Wembley bei 50:50.