EM

Überraschendes Überholmanöver: Was Siebert zu seiner Nominierung sagt

Entscheidung ruft bei Schiedsrichter-Kollegen nicht nur Applaus hervor

Überraschendes Überholmanöver: Was Siebert zu seiner Nominierung sagt

"Das musste ich erst mal verarbeiten": Daniel Siebert zu seiner überraschenden EM-Nominierung.

"Das musste ich erst mal verarbeiten": Daniel Siebert zu seiner überraschenden EM-Nominierung. Getty Images

Ein Mittwoch, Ende April. Daniel Siebert sitzt in einem Mietwagen auf dem Weg vom Frankfurter Flughafen nach Sinsheim. Dort soll er am Abend das Spiel Hoffenheim gegen Mönchengladbach pfeifen - sein 120. Einsatz in der Bundesliga seit seinem Debüt im September 2012. National hat er sich zu einer Topkraft entwickelt. International fehlt dem 2015 zum FIFA-Referee ernannten Lehrer, der in Teilzeit Sport und Geografie am Berliner Schul- und Leistungssportzentrum unterrichtet, aber noch ein Schritt in die Spitze. Er gehört der "First Category" an, durfte unter anderem vier Partien in der Champions League, 13 in der Europa League und neun Länderspiele leiten. Sein klares Ziel: die Elite-Gruppe, die Basis für die großen Knaller in der Königsklasse oder bei Welt- und Europameisterschaften. Der Gipfel der Sehnsucht - auch für Schiris.

Auf der Fahrt nach Sinsheim ploppt auf dem Handy von Sieberts Assistenten eine spannende Nachricht auf: die 19 EM-Schiedsrichter 2021. Die üblichen Verdächtigen sind dabei: Felix Brych, die deutsche Nummer eins auf internationalem Parkett, der Niederländer Björn Kuipers, der Türke Cüneyt Cakir, Anthony Taylor und Michael Oliver aus England, der Italiener Daniele Orsato - und Daniel Siebert. Echt jetzt?!

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Europameisterschaft - Vorrunde, 1. Spieltag
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"Große Auszeichnung und Ehre"

"Das war Wahnsinn, das musste ich erst mal verarbeiten. Ich war perplex und sehr überrascht, weil ich dachte, eine Position in der zweithöchsten Kategorie schließt wohl eine EM-Teilnahme aus", erinnert sich Siebert im Gespräch mit dem kicker. "Da ich ein wichtiges Spiel zu pfeifen hatte, habe ich im ersten Moment nicht viel Freude zugelassen." Die kam am nächsten Tag: "Es ist eine große Auszeichnung und Ehre." Das Europa-League-Viertelfinale Anfang April zwischen Dinamo Zagreb und dem FC Villarreal war wohl ein entscheidender Stresstest, den Siebert unbewusst bestand.

Trotz dieses nahenden Karrierehöhepunkts hatte Siebert auch "gemischte Gefühle", weil er wusste, dass seine Frau das erste gemeinsame Kind wahrscheinlich mitten in der EM-Vorbereitung bekommen wird. "Für mich war immer klar, bei der Geburt dabei sein zu wollen." Zu seiner Erleichterung haben die UEFA-Entscheider um Schirichef Roberto Rosetti Verständnis signalisiert: "Daher hoffe ich, dass wir gemeinsam eine flexible Lösung finden werden."

Aytekin, Zwayer und Stieler bleiben zu Hause

Seine Nominierung rief derweil nicht überall Applaus hervor in einer Branche, in der die Akteure mit der Pfeife zwar auf Teamarbeit angewiesen, letztlich aber auch Einzelkämpfer sind. Mit seinem überraschenden Überholmanöver, bei dem ihn die UEFA gleichsam über den rechten Fahrstreifen lotste, hat Siebert auch drei deutsche Kollegen abgehängt. Neben Brych besitzen Deniz Aytekin, Felix Zwayer und seit Dezember 2020 auch Tobias Stieler eine Elite-Mitgliedskarte. Aytekin, in der Bundesliga seit Jahren anerkannte Spitzenkraft, ist wegen einer Achillessehnen-OP erst seit März wieder aktiv, konnte sich kaum für die EM empfehlen.

Zwayer und Stieler hingegen "waren sicherlich auch für die EURO ambitioniert", räumt DFB-Schiedsrichterchef Lutz Michael Fröhlich ein: "Aber im Sport ist das nun mal so, es gibt nicht nur Sonnenschein, es gibt auch mal so etwas, was man wie eine Niederlage empfindet." Das Duo solle selbstkritisch reflektieren und nach vorne blicken, so der 63-Jährige. Nach kicker-Informationen besaß Zwayer für die ursprünglich 2020 geplante EM gute Karten, zeigte allerdings 2020/21 national wie international zu viele Schwächen. Bei Stieler verliefen besonders die jüngsten UEFA-Auftritte, wie etwa das Königsklassen-Achtelfinalhinspiel zwischen Bergamo und Real Madrid, nicht optimal.

Vier Bundesliga-Spitzenspiele unter Siebert

Diese sind entscheidend, die UEFA-Funktionäre schauen aber auch in die heimischen Ligen. Dort durfte sich Siebert 2020/21 sehr exponiert zeigen, leitete die Topduelle Bayern gegen Leipzig (kicker-Noten 1,5 und 2) und Leipzig gegen Dortmund (3 und 4) jeweils in Hin- und Rückrunde. Eine außergewöhnliche Konstellation, die im Kollegen- respektive Rivalenkreis nicht jeden begeisterte. Siebert sagt selbstbewusst: "Diese Ansetzungen sind eine Auszeichnung und ein Qualitätsmerkmal. Ich bin froh, dass ich in diesen Topspielen mit guten Leistungen das Vertrauen der sportlichen Leitung zurückzahlen konnte."

Fröhlich, der Topspiele nur einem kleinen Kreis anvertraut, verweist auf viele Einflussfaktoren bei den Ansetzungen. So fiel Aytekin in der Hinrunde aus, andere Topleute pfiffen eines der beiden Teams kurz zuvor und Brych konnte als Leiter des Pokalfinales nicht auch einige Tage vorher Dortmund gegen Leipzig leiten. Und: "Daniel Siebert hat in den Hinspielen gute Leistungen gezeigt und sich dadurch auch für die Rückspiele beworben", sagt Fröhlich, betont aber, dass derselbe Referee im Hin- und Rückspiel nicht den Regelfall darstelle.

Physis und Kommunikation passen

Fröhlich hält viel von Siebert: "Er ist sehr selbstbewusst, dabei aber auch jederzeit entwicklungswillig. Er hat ein enormes Potenzial für einen absoluten Topschiedsrichter, bringt viel Fußballsachverstand in seine Spielleitungen ein und hat ein gutes Gespür dafür, wann er Spiele laufen lassen kann. Die Physis passt bei ihm, und auch in der Kommunikation und im Umgang auf dem Feld hat er sich positiv weiterentwickelt, agiert sehr sachlich und klar." Trotz aller auf Strecke kaum zu umgehenden Leistungskriterien ist der Schiedsrichter so abhängig von seinen Chefs wie ein Spieler vom Trainer, der die Aufstellung verantwortet. Da ist es für Siebert sicher kein Nachteil, dass Rosetti ihn bei einem Perspektivlehrgang vor Jahren persönlich coachte.

In der Jugend gegen Boateng und Huth

Aber unabhängig von Fröhlichs und Rosettis Förderung: Siebert, der als Stürmer bis 18 für den FC Nordost Berlin in der höchsten Jugendliga gegen spätere Profis wie Kevin-Prince Boateng oder Robert Huth spielte und vor allem mit seinem Gefühl für Spiel und Spielerperspektive punktet, hat 2020/21 trotz des einen oder anderen Fehlers insgesamt sportlich überzeugt. Jetzt muss er mit seinen Assistenten Jan Seidel und Rafael Foltyn die EM-Reife nachweisen. Immerhin kann ihn der VAR - in dieser Rolle sind mit Marco Fritz, Christian Dingert, Bastian Dankert und Christian Gittelmann vier Deutsche bei der EM tätig - vor groben Patzern bewahren. Er werde es mit großer Freude und bestmöglich vorbereitet angehen. Siebert weiß aber auch, "dass es nach einer schlechten Spielleitung auf diesem Toplevel schnell wieder in die andere Richtung gehen kann und ich mich dann wieder hinten anstellen müsste".

Dr. Felix Brych

Imposante Laufbahn mit 300 Bundesligaeinsätzen: Dr. Felix Brych. picture-alliance

Läuft es hingegen ohne größere Komplikationen, besitzt Siebert gute Chancen, Brychs Erbe anzutreten. Der promovierte Jurist aus München kann schon jetzt auf eine imposante Laufbahn mit 300 Bundesligaeinsätzen und mehr als 100 Auftritten außerhalb der Landesgrenzen zurückblicken. Diese EM, bei der ihm seine Vertrauten Mark Borsch und Stefan Lupp assistieren, soll die FIFA- Karriere des Weltschiedsrichters 2017 abrunden. "Für ihn freut es mich sehr", sagt Fröhlich, "ihn zeichnet die absolute Fokussierung auf die jeweilige nächste Aufgabe aus, mit einer akribischen Vorbereitung."

Brychs bitter verlaufene WM 2018

Negativerlebnisse wie das Phantomtor bei Hoffenheim gegen Leverkusen 2013 oder die für ihn bitter verlaufene WM 2018, als ihn serbische Verbandsvertreter nach dem 1:2 gegen die Schweiz mit widerlichen Kriegsverbrecher-Vergleichen attackierten und er bei nur einem Einsatz blieb, haben Brych nicht aus der Bahn geworfen. "In den letzten Jahren ist er in der Kommunikation auf dem Feld und im Umgang mit den Spielern noch etwas nahbarer geworden, ohne dabei eine gesunde Distanz aufzugeben. Das steht ihm gut. Dass er nun sein viertes großes Turnier pfeifen darf, ist eine weitere große und seltene Auszeichnung", lobt Fröhlich. "Ich habe ihn 2001 in der 2. Liga beobachtet", erinnert sich Bernd Heynemann, "damals konnte man schon erkennen, dass er mit Blick auf Präsenz, Laufstil und seine Art der Spielleitung ein ganz Großer wird." Heynemann pfiff neben Hellmut Krug bei der EM 1996, als letztmals zwei deutsche Referees aktiv waren. "Damals hatten wir noch kein zentrales Camp", sagt Heynemann, der aus der Heimat zum Einsatz auf die Insel flog.

Nun ist Istanbul, wo keine Spiele stattfinden, die Schiri-Basis - warum auch immer. Ob Siebert schon an diesem Montag zum Start des Vorbereitungscamps anreisen kann, hängt vor allem am Mutter-Kind-Timing.

Dieser Artikel erschien erstmals in der kicker-Montagsausgabe vom 7. Juni

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Carsten Schröter-Lorenz