Bundesliga

Kießlings Phantomtor 2013: "Wie, der war nicht drin?"

Eine persönliche Erinnerung an Kießlings Phantomtor

"Wie, der war nicht drin?"

Ein Tor, das keines war: Stefan Kießling (li.) trifft zum 2:0 in Hoffenheim.

Ein Tor, das keines war: Stefan Kießling (li.) trifft zum 2:0 in Hoffenheim. imago images

Einer der Reize, ein Spiel live im Stadion zu verfolgen, besteht darin, nicht zu wissen, was passiert. Man hofft, Zeuge von etwas Besonderem, etwas Unvorhersehbarem zu werden. Am 18. Oktober 2013 wurde ich Zeuge eines der speziellsten Tore der Bundesliga-Geschichte. Und dann war es so unvorhersehbar, dass ich es nicht mal bemerkte.

Aber der Reihe nach. Der Besuch beim Spiel Hoffenheim gegen Leverkusen ist für mich zu dieser Zeit beinahe obligatorisch, schließlich spielt der geografisch weit entfernte Lieblingsverein auswärts im geografisch nächstgelegenen Bundesliga-Stadion. Für diesen Freitagabend habe ich vorab einige Tickets besorgt, denn einige Freunde wollen mitkommen. Und Freunde von ihnen. Und sogar meine Schwester, die seitdem, glaube ich, kein Stadion mehr von innen gesehen hat. Das Ergebnis ist den meisten relativ egal, teilweise hält sich auch ihr generelles Fußball-Interesse in Grenzen.

Warum sie alle gerade an diesem Tag mitwollten? Keine Ahnung. Einfach "mal ins Stadion" wahrscheinlich. Das Spiel an sich verspricht jedenfalls nicht gerade einen Leckerbissen: Hoffenheim ist trotz der personell stark besetzten Mannschaft mit Roberto Firmino, Kevin Volland, Anthony Modeste und dem jungen Niklas Süle verhalten in die Saison gestartet, Leverkusen spielt unter Trainer Sami Hyypiä zwar erfolgreichen, aber wenig berauschenden Fußball.

Erst nach dem Abpfiff wird es interessant: Der war gar nicht drin?

Statistiken zum Spiel

So sind die 90 Minuten von Sinsheim in meiner Erinnerung heute auch schon relativ verblasst. Einigermaßen souveräne Führung durch Sam und Kießling, dann ein Elfmeter für Hoffenheim, der zu meinem wahrscheinlich größten Gefühlsausbruch des Tages führt (Wie kann er den bitte geben?), Leno hält gegen Firmino und am Ende doch nochmal zittern nach dem Anschlusstreffer durch Schipplock. Letztendlich 2:1 gewonnen und über Nacht Tabellenführer. Schön, aber ein stinknormales Bundesliga-Spiel eben. Denke ich. Aber nur kurz.

Denn an die Minuten nach dem Abpfiff kann ich mich auch heute noch klarer erinnern als an so ziemlich jede andere Sequenz, die ich in einem Stadion erlebt habe. Das sonst eher zurückhaltende Hoffenheimer Publikum setzt zu einem gellenden Pfeifkonzert an und sogar zu Schmähgesängen gegen ... Stefan Kießling? Wieso das denn? Kießling, immerhin amtierender Torschützenkönig, wird an der Seitenlinie umringt von Gegenspielern, Offiziellen, Reportern. Und dann spielt die Hoffenheimer Stadionregie auf der Videowand das Tor zum 2:0 ein. Immer und immer wieder. Was soll das denn jetzt? Dieses 08/15-Kopfballtor nach Ecke? War doch jetzt wirklich nichts Besonderes. Zunächst beachte ich es gar nicht.

Eine schweigende Übereinkunft der Fassungslosigkeit

Es dauert bis zur fünften oder sechsten Wiederholung, bis ich langsam realisiere, was Fußball-Deutschland vor den Bildschirmen natürlich schon längst weiß und sich wohl auch im Hoffenheimer Block herumgesprochen hat: Wie? Der war gar nicht drin? Wie ist der denn reingegangen? Erst eine Woche vorher bin ich von zu Hause ausgezogen, hinter mir liegen die Einführungstage an der Uni. Neue Stadt, neue Wohnung, neue Leute. Aber diese Reizüberflutung in Sinsheim toppt jetzt alles. Sowas geht doch gar nicht!

Mit ein paar Momenten Verzögerung drehe ich mich zu meinen Nachbarn um, sage "Der war gar nicht drin" und fühle mich im gleichen Moment schon doof. Sieht ja jeder gerade selbst. Aber es sagt halt niemand etwas. Irgendwie weiß keiner, der um mich herumsteht, so richtig, wie er gerade reagieren soll. Eine schweigende Übereinkunft der Fassungslosigkeit.

Die Sekunden nach dem Phantomtor

Jubel mit Verzögerung: Die Sekunden nach dem Phantomtor. imago images

Ich versuche, mich zurückzuerinnern, was eine knappe halbe Stunde vorher da passiert ist. Ja, im ersten Moment dachte ich auch, der Kopfball geht vorbei. Und der Jubel aus dem Gästeblock kam relativ zögerlich. Klar, in der Nachbetrachtung ergibt das Sinn. Aber so wirklich hinterfragt habe ich das nicht. Unsere Plätze liegen auch zu ungünstig, um das wirklich zu beurteilen. Dieses Gefühl kennt ja auch jeder, der hin und wieder Fußball im Stadion schaut: Keine gute Sicht auf die Situation, vor einem reißt jemand die Arme hoch, auf einmal jubeln alle und man selbst denkt, man bräuchte eine Brille (die ich inzwischen tatsächlich trage). Aber: Alle jubeln, keiner beschwert sich, Schiedsrichter zeigt zur Mittellinie - und vor allem: Ball liegt im Tor. Dann muss es ja ein Tor sein, keine weiteren Fragen.

Die Spielwertung steht auf dem Spiel - und die Wette auch

Dass es jetzt doch kein Tor war - obwohl kein Abseits, kein Foul, kein Hand -, überfordert mich. Ich bemühe mein Smartphone, das ich während der 90 Minuten nicht angerührt habe. Um die kicker-App zu öffnen, reicht das Netz im Stadion nicht aus, aber zumindest die WhatsApp-Nachrichten laden. Mein Vater, krank zu Hause geblieben und als gebürtiger Kraichgauer bekennender TSG-Sympathisant, schreibt etwas von "Skandal" und dass das Spiel wahrscheinlich wiederholt wird. Hätten sie bei Sky gesagt.

Erst jetzt fällt mir die Analogie zu Helmers Phantomtor gegen Nürnberg ein, ich trage sie an zwei Freunde neben mir heran. Die denken direkt über das Sportliche hinaus, sie haben nämlich vor dem Spiel eine Wette platziert: Sam und Kießling treffen, Leverkusen gewinnt. Starke Quote, satter Gewinn. Aber was, wenn die Wertung morgen annulliert wird? Lieber gleich auszahlen lassen. "tipico Sinsheim" googeln sie - vergeblich, der Empfang reicht nicht aus. Nicht das einzige schlechte Netz an diesem Abend, könnte man witzeln.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?

Die Minuten im Stadion - und vor allem die Diskussionen in den Wochen danach - empfand ich damals als eher unangenehm. Mittlerweile ist die Erinnerung an diesen Freitagabend aber zu meiner Lieblings-Stadion-Erinnerung geworden. Eben weil sie das verkörpert, was den Fußball für mich ausmacht: Die Momente, die dich mit offenem Mund zurücklassen. Die dir ein "Das gibt's doch nicht" entlocken. Ein kaum sichtbares Loch im Tornetz? Und der Ball fliegt exakt durch diese kleine Öffnung hindurch? Wie groß bitte ist die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert?

Die ganze Absurdität der Situation und meine eigene Entgeisterung amüsieren mich jedenfalls heute noch - ebenso wie die Tatsache, dass die vielen Halb-Interessierten in meinem Freundeskreis sich ausgerechnet dieses Spiel ausgesucht haben, um "mal ins Stadion" zu gehen.

Dieser Text erschien erstmals im Mai 2020 im Rahmen einer Serie über die Lieblingsspiele von kicker-Mitarbeitern

Michael Bächle

Skandal in Sinsheim: Kießlings Kopfball erhitzt die Gemüter