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"Langjährige Gefängnisstrafen gab es nicht"

Lettland-Experte über den Fußball im Land des DFB-Gegners

"Langjährige Gefängnisstrafen gab es nicht"

Oliver Schlegl im Jahr 2017 bei seinem Amtsantritt als Geschäftsführer der lettischen Virsliga.

Oliver Schlegl im Jahr 2017 bei seinem Amtsantritt als Geschäftsführer der lettischen Virsliga. picture alliance

Herr Schlegl, wäre die deutsche Nationalelf ein Bundesliga-Spitzenteam, auf welches Niveau müsste man Lettland im Quervergleich taxieren?

Das ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil der Fußball in 2. und 3. Liga ja ein wenig anders ist als in der Bundesliga. Von der Physis her im unteren Bereich der 2. Liga, vielleicht auf dem Niveau von Sandhausen oder Osnabrück. Vom Technisch-Taktischen her 3. Liga.

2004 war Lettland letztmals bei der EM, mit durchaus namhaften Spielern wie Marians Pahars oder Vitalijs Astafjevs. Was ist seitdem schiefgelaufen?

Da muss ich ausholen: Mit Skonto Riga, das 14-mal in Folge Meister wurde und dessen Profis den Stamm der 2004er Nationalelf bildeten, ging der größte Klub bankrott. Das 0:0 gegen Deutschland bei der EM in Portugal wird übrigens immer noch als historisch größter Erfolg angesehen, noch vor der Qualifikation zur EM 2004 selbst und der knapp verpassten Qualifikation zu den Play-offs zur WM 2010 in Südafrika. Die Generation der Spieler aus den 1970ern Jahrgängen war bei Skonto noch gut ausgebildet worden. Dann kam nichts nach, Maris Verpakovskis (geboren 1979, d. Red.) war von diesen der Letzte, Artjoms Rudnevs danach war eine Ausnahme.

Warum kam nichts nach bei den Letten, gegen die das DFB-Team an diesem Montag um 20.45 Uhr (LIVE! bei kicker) in Düsseldorf gefordert ist?

Weil das unabhängige Lettland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie eine vernünftige Nachwuchsausbildung auf die Beine gestellt hat.

Eishockey ist hier die Sportart Nummer eins, Basketball ist ebenfalls vor dem Fußball angesiedelt.

Oliver Schlegl

Fehlt es an Geld?

Auch das ist ein Problem. Man muss wissen: Eishockey ist hier die Sportart Nummer eins, Basketball ist ebenfalls vor dem Fußball angesiedelt. Der lettischsprachige Teil der Bevölkerung ist nur am Rande am Fußball interessiert, bei den Russischsprachigen sieht es etwas anders aus, die sind hockey- und fußballaffin.

Also ist es fast normal, dass die Nationalelf ein tristes Dasein fristet …

Ich möchte das Gegenbeispiel Luxemburg nennen. Die waren jahrzehntelang nicht konkurrenzfähig, haben dann aber nicht zuletzt dank dem Deutschen Reinhold Breu (firmierte u.a. als technischer Direktor, d. Red.) mit konzeptionell guter Arbeit in Infrastruktur und Ausbildung investiert und ernten jetzt den Lohn. In Lettland dagegen floss kaum Geld in Plätze oder Hallen, die wegen des langen Winters nötig wären. Luxemburg muss ein Paradebeispiel sein, auch in der Trainerausbildung. Lettische Kinder sind ja per se keine schlechteren Fußballer als westeuropäische, sie brauchen nur die Trainingsmöglichkeiten. Es gibt schon Talente wie Kristers Tobers von Lechia Gdansk, ein 2000er-Jahrgang, der gegen Deutschland leider verletzt fehlen wird, oder Raimunds Krollis, ein 19-jähriger Stürmer von FK Valmiera, der ein Angebot von PEC Zwolle hatte. Aber 2004 hat Pahars beim FC Southampton gespielt, Igors Stepanovs sogar beim FC Arsenal, andere bei großen russischen Klubs.

Und heute?

Wir haben drei Profis in Polen, doch mit Vladislavs Gutkovskis ist nur einer wirklich Stammspieler. Zwei in der Ukraine. Die sind immerhin Stamm, Kaspars Dubra und Andrejs Ciganiks, der übrigens in Leverkusen U 19 gespielt hat und später bei Viktoria Köln und Schalke II war. Zwei sind noch in der Schweiz, aber nur Reserve. Der Rest spielt in drittklassigen Ligen.

Sie selbst kamen 2017 als Geschäftsführer zur lettischen Virsliga, an Abschottung gegen Expertise von außen kann es also nicht liegen. Warum ist keine Entwicklung festzustellen?

Es gab sehr lebhafte Jahre im Verband, spätestens seit dem Rücktritt von Guntris Indriksons 2018. Sein Nachfolger Kaspars Gorkss, der sozusagen vom Platz direkt ins Präsidentenamt wechselte, hatte eine starke Opposition gegen sich, große Probleme in der Mitarbeiterführung und musste unfreiwillig gehen. Vadims Lasenko steht für Wandel, versucht aber jetzt erstmal die Infrastruktur anzuschieben. Auch die Nationalelf hat mit Dainis Kazakevics seit 2020 einen neuen Trainer.

Keine andere europäische Liga erlaubt so viele nicht-EU-Ausländer

Wie bewerten Sie sein Wirken?

Er war lange Sportdirektor im Verband und zugleich U-21-Coach, er wird sehr kritisch gesehen, weil er bei der U 21 keine Erfolge feiern konnte und keine Spieler entwickelt hat. Ehrlicherweise gibt aber auch das Personal mangels individueller Qualität keinen Anlass zu Optimismus. Ein weiteres Problem ist: Keine europäische Liga erlaubt so viele Nicht-EU-Ausländer auf dem Platz wie die Virsliga.

Wer ist verantwortlich dafür?

Das kam klar auf Wunsch der Liga. Kazakevics war dagegen, die Vereine wollten es unbedingt. Bis 2019 mussten sechs in Lettland ausgebildete Spieler auf dem Platz stehen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Einige Letten nutzten dieses Privileg bei Gehaltsverhandlungen aus und verlangten nicht marktgerechte Gehälter. Davon hatten die Vereine die Nase voll, nun dürfen acht Ausländer gleichzeitig eingesetzt werden, egal ob EU oder Nicht-EU.

Das kann aber doch auch eine Chance sein für ausländische Talente, oder?

Ja, speziell Afrikaner ergreifen die Chance in Europa und kommen für vergleichsweise geringe Gehälter nach Lettland, um sich für andere Ligen ins Schaufenster zu stellen, siehe Tolu Arokodare, der ja von Valmiera an den 1. FC Köln verliehen war. Das Niveau der Virsliga ist dadurch ein wenig gestiegen, das sieht man am ordentlichen Abschneiden der Teams in der Qualifikation zu den europäischen Wettbewerben. Die Hoffnung ist, dass die Letten sich dieser höheren Qualität anpassen. Und für Investoren sind Klubs mit einem Geschäftsmodell, auf Talente aus Südamerika oder Afrika zu setzen, durchaus interessant.

Schlegl über den Manipulationsskandal: "Für den Ruf war das schrecklich!"

Welche Rolle spielt der Manipulationsskandal von 2015 und 2016 für die Entwicklung?

Für den Ruf war das schrecklich! Der Verband nahm mehrere Mannschaften aus der Liga heraus, die Vereine verschwanden dann sehr schnell von der Bildfläche, Daugava Riga etwa existiert nicht mehr. Von der Vorbildfunktion will ich gar nicht reden.

Wurden die Drahtzieher eigentlich jemals richtig dingfest gemacht?

Nein, langjährige Gefängnisstrafen gab es nicht. Verhaftungen schon, aber die endeten meist in vorzeitigen Freilassungen, weil der endgültige Beweis bei Manipulation oft fehlt. Es gibt hier die ein oder andere Person unter Verdacht, doch Staatsanwaltschaft und Polizei haben nicht die nötigen Beweise.

Auch während Ihrer Amtszeit in der Virsliga tauchte das Thema wieder auf …

Ja, bei SK Babite lag ein starker Verdacht der Wettmanipulation vor. Die Indizien, die auch Sportradar mit darlegte, waren so eindeutig, dass der Verband die Mannschaft aus dem laufenden Spielbetrieb herausnahm. Auch jetzt gibt es ja wieder Verdachtsmomente gegen Noah Jurmala. Dieser Klub hat trotz zwischenzeitlichem Besitzverhältnis nichts mehr mit der armenischen Noah-Gruppe zu tun, die in Krefeld investieren wollte.

Worum geht es da?

Leider kamen in den letzten beiden Partien sehr, sehr starke Verdachtsmomente auf, dass höher als nötig verloren wurde. Also dass mutmaßlich nachgeholfen wurde. Der Verband hat daher den serbischen Torhüter des FC Noah am Freitag bis auf Weiteres gesperrt.

Schlegl: "Es würde das Ganze aber trauriger machen"

Sind das die gleichen Drahtzieher wie damals?

So wird es zumindest in den lettischen Medien spekuliert. Das ist möglich, aber nicht bewiesen. Es würde das Ganze aber noch trauriger machen.

Interview: Benni Hofmann