Seine Doktorarbeit hat Stefan Göke zum Einstieg in den Profibereich geschrieben. Er ist ein profunder Kenner der Toptalent-Szene im Fußball. 2014 gründete er das Portal "Gokixx", für das inzwischen Matthias Sammer als "Head of Sports Strategy" fungiert. Im Shutdown sind die digitalen Angebote des Unternehmens besonders gefragt.
Herr Göke, wie groß ist der Rückschritt bei den Jugend- oder Juniorenspielern aufgrund der Trainings- oder Spielpause?
Die Spieler haben seit März 2020 keinen nachhaltigen Wettkampf. Wenn die Saison jetzt abgebrochen wird, geht es erst im August oder September weiter. Dann sind es in Summe eineinhalb Jahre, in denen die Spieler fünf Pflichtspiele absolviert haben. Das ist eine Situation, wie wir sie noch nie hatten seit Einführung der Leistungszentren vor 20 Jahren. Wie groß der Rückstand dann sein wird, ist demnach schwer abzuschätzen. Wenn die Spieler die aktuelle Phase aber gut gestalten, muss es keine verlorene Zeit, keine verlorene Generation sein.
Warum?
Auch diese Spieler werden ihre Chance bekommen. Gerade bei knappen Budgets zu Corona-Zeiten werden die Vereine vermehrt auf die Jugend setzen. Dafür müssen die Spieler bereit sein, die aktuelle Situation anzunehmen. Jetzt die Zeit nutzen und sich nicht nur fit halten, sondern Defizite klar benennen und individuell wie kontinuierlich arbeiten. Die Interaktion der Spieler in der Gokixx-Community zu diesem Themenkomplex ist hoch, die Spieler gehen aktiv mit der Situation um.
Für die Breite der Spieler wird es schwieriger.
Welche Alternativen gibt es?
Natürlich ist die Lage extrem herausfordernd, doch individuell bietet sie auch Chancen. Der eine wird im Moment beschleunigt, der andere gebremst. Da geht die Schere weiter auseinander, das ist ein Katalysator für die Entscheidung, wer es schafft und wer sich aufmacht, einen anderen Beruf zu erlernen. Die Größe des Rückschritts hängt am Ende von der individuellen Situation ab. Der Auswahlprozess in der U19 war auch vor Corona schon brutal. Die Top-Talente können es trotzdem schaffen. Die Vereine müssen jetzt - mit weniger Sichtungsmöglichkeiten - die Entscheidungen treffen, wen sie fördern. Für die Breite der Spieler und die späteren Quereinsteiger wird es schwieriger. Bekannte Top-Talente aber bleiben im Fokus.
Gibt es beim Hometraining ähnliche Probleme wie beim Homeschooling aufgrund der familiären Situation?
Die Lage ist nicht nur im Sport, sondern auch in den Familien heterogen. Auch wenn die Spieler nicht im Verein trainieren können, geht es zu Hause erst einmal darum, wie es der Familie geht und wie es mit der Schule klappt. Erst dann kommt das Training und die Frage, ob es Equipment gibt oder einen Garten.
Wie sehr fehlt das Vereinstraining?
Seit Januar oder Februar trainieren im Leistungsbereich jedoch viele Teams wieder. Und es ist essenziell, dass im Verein trainiert werden kann, mindestens in Kleingruppen. Denn diese Spielergeneration ist zwar darin geschult, selbstständig und auf engstem Raum zu trainieren und setzt sich dabei im Alltag mit der Verbesserung von Ernährung und Schlafrhythmus auseinander. Jedoch sind das alles Themen "ohne Ball". Hometraining kann das Mannschaftstraining nicht ersetzen.
In der Entwicklung im Leistungsbereich geht es um Nuancen.
Wie stark leidet die Motivation durch den Wegfall des Trainings oder der Spiele?
Der Sinn des Spiels ist definiert in Sieg und Niederlage. Die Spieler wollen im Wettkampf Leistung zeigen und gewinnen. Siege und Niederlagen sind das Feedback, wie sie als Individuum und als Mannschaft agiert haben. Das ist ihr Antrieb. Eine so lange Zeit ohne Spiele und auch ohne Tabellenstände ist unglaublich herausfordernd, denn in der Entwicklung im Leistungsbereich geht es um wenige Prozente, um Nuancen.
Welche Auswirkungen hat der Spielausfall auf den Einzelnen?
Wie stark es die Spieler beeinträchtigt, hängt grundsätzlich von der Länge des Ausfalls sowie der individuellen Gegenmaßnahmen ab. Der Ausfall ist bisher schon extrem lang, deswegen kämpfen alle damit. Ein Re-Start der Junioren-Ligen wäre wichtig gewesen, ansonsten eben Testspiele oder Mini-Turniere. Mehr denn je müssen wir jetzt individuell mit den Spielern arbeiten, sie unterstützen. Im ersten Lockdown im März und April 2020 haben wir hier überragende Beispiele gesehen. Spieler haben zum Beispiel ihren Ernährungsplan umgestellt, am schwachen Fuß gearbeitet, Krafttraining gemacht und sich Equipment zusammengespart. Das war keine verlorene Zeit. Sich aber ein Jahr später immer wieder so zu motivieren ist unfassbar anstrengend. Klar ist: Es setzen sich die Spieler durch, die trotzdem durchziehen.
Gibt es Fälle unter den Toptalenten, dass aufgrund von Corona die Karriere beendet wurde?
Nein, nur wegen Corona beendet kein Spieler im Leistungsbereich seine Karriere. Wenn es aber vorher schon Überlegungen gab, einen anderen Weg einzuschlagen - zum Beispiel durch Verletzungen, einen Leistungsrückstand oder auch die Begeisterung für einen anderen Beruf - dann kann die Corona-Situation solche Überlegungen stärken. Die Toptalente stehen aber in der Krise eher im Fokus der Vereine als andere Spieler. Und auch da ist es nicht immer einfach.
Ein verstärkter Transfer von Junioren aus dem Ausland würde mich nicht überraschen.
Was meinen Sie konkret?
Ein Beispiel aus unserem Coaching-Programm ist ein Spieler, der zu den Profis hochgezogen werden sollte, aber parallel fürs Abitur im Präsenzunterricht saß. Er durfte aufgrund des Hygienekonzepts die Einheiten mit den Profis nicht mitmachen. Er musste dann einige Wochen warten, bis sich die Rahmenbedingungen geändert hatten. Es ist also Durchhaltevermögen gefragt. Top-Talente können in diesen Zeiten schwieriger zwischen U19, U21 und Profis wechseln.
Trifft das Problem international mehr oder weniger alle gleich?
In der aktuellen Situation geht es um die Frage: Findet ein regulärer Spiel- und Trainingsbetrieb bei den Junioren statt? Und da gibt es in Europa Unterschiede. In Großbritannien wurden in der U18 bis Februar 18 Spiele absolviert. In Italien spielt die U19 seit Januar wieder. In Spanien spielen die relevanten Ligen in den Altersklassen U19 und U21 sogar seit Saisonstart ohne Unterbrechung. Nur in Frankreich ist es so schwierig wie bei uns. Das ist natürlich ein Nachteil für die Talente in Deutschland auf dem Weg in die Bundesliga. Ein verstärkter Transfer von Junioren aus dem Ausland würde mich nicht überraschen.