Im Sommer 1982 spielte Claudio Gentile die besten Wochen seines fußballerischen Lebens. Auf dem Weg zum WM-Titel in Spanien nahm der italienische Haudegen selbst die fähigsten Ballkünstler wie Diego Maradona oder Zico rigoros aus dem Spiel, was ihm den verdienten Ruf als bester Manndecker der Welt einbrachte.
Knapp elf Monate später, im Landesmeister-Finale gegen den Hamburger SV, wurde dieser Stil seiner Vereinsmannschaft Juventus Turin zum Verhängnis. Ernst Happel, Trainerfuchs des klaren Außenseiters aus Norddeutschland, hatte sich auf Juves Weg ins Endspiel vergewissert, dass Gentile seinem Erfolgsprinzip, dem Gegenspieler auf Schritt und Tritt überall hin zu folgen, bedingungslos treu bleiben würde.
Bastrup und Milewski verschafften Magath freie Bahn
Außerdem war das "Gioco All'italiana" zwar eine Weiterentwicklung des berühmt-berüchtigten Catenaccio gewesen, die damals mit Abstand gängigste Formation des italienischen Fußballs (ein asymmetrisches 4-4-2) entpuppte sich allerdings als enorm ausrechenbar - weil eigentlich immer schon klar war, wer gegen wen spielte. Hinter einem Mittelfeld, das tendenziell Raumdeckung praktizierte, waren die Turiner Verteidiger nämlich immer noch mit klassischer Manndeckung beauftragt. Der rechte Vorstopper Gentile würde sich also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Hamburgs Linksaußen Lars Bastrup gesellen. So kam Happel eine Idee.
Er beorderte Bastrup, der um Mittelstürmer Horst Hrubesch herumspielte, just von links nach rechts - und riss Juves rechte Seite, weil Gentile Bastrup ja brav folgte, dadurch weit auf. Weil sich Jürgen Milewski zudem fallen ließ und Turins Staubsauger Massimo Bonini mit sich zog, wurde das Loch im linken Halbraum nur noch größer, in das immer wieder HSV-Spielmacher Felix Magath stoßen sollte. "Als die Italiener merkten, was los war, lagen wir schon in Führung", erinnerte sich Milewski.
Bereits in der achten Minute hatte Magath ("Ich hatte Bewegungsfreiheiten wie niemals in der Bundesliga") seinen Platz genutzt und Torwart-Ikone Dino Zoff den Ball aus gut 20 Metern in den Knick gejagt. Ein Kniff, ein Schuss, ein Tor. Ein Traumtor. Doch das war nicht Happels einziger taktischer Sieg über seinen prominenten Kontrahenten Giovanni Trapattoni.
Der Spielbericht
Wolfgang Rolff, international noch ziemlich unbekannt, hatte der HSV-Trainer Juves genialem Spielmacher Michel Platini auf den Hals gehetzt. Um sich zu befreien, fiel Europas torgefährlichster Mittelfeldspieler tief in die eigene Hälfte zurück, von wo aus der kommende Ballon-d'Or-Gewinner das Spiel jedoch kaum prägen konnte. Manndecken indes konnten auch die Hamburger. So stellte Ditmar Jakobs WM-Torschützenkönig Paolo Rossi derart kalt, dass Trapattoni ihn nach nicht einmal einer Stunde auswechselte.
Und noch ein Schlüsselspieler hatte Probleme. Juves Mittelfeldmotor Marco Tardelli, defensiv dem umtriebigen Magath zugeteilt, wurde durch Happels Gentile-Kniff gemeinsam mit Magath auf die Seite gezogen, konnte demnach auch nicht das übernehmen, was Platini im Zentrum versäumte: die Spielgestaltung des strauchelnden Favoriten. Während Juves überlegene Individualisten also vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, kontrollierte Hamburgs überlegenes Kollektiv das Spiel. Der englische Kommentator Barry Davies fühlte sich beinahe verschaukelt: "Es wirkt, als hätte der HSV mehr Spieler auf dem Platz."

Der schon wieder: Wolfgang Rolff ging Michel Platini (re.) erfolgreich auf die Nerven. imago sportfotodienst
Zu verdanken war das Happels modernen Elementen wie Pressing, das nicht selten sein nimmermüder Spielmacher Magath auslöste. Auf diese Idee wäre Platini wohl nie gekommen. Ihre Fitness erlaubte den Rothosen auch eine disziplinierte Raumaufteilung samt hoher letzter Linie und fast schon italienischem Umschaltspiel. Heterogene Turiner konnten einem beinahe ein wenig leidtun.
"Juventus zeigte einen überholten Fußball, basierend auf lauter Einzelspielern. Wir haben Fußball der Zukunft gezeigt", frohlockte HSV-Libero Holger Hieronymus, auf den nach dem Seitenwechsel deutlich mehr Arbeit zukommen sollte. Wie vielseitig diese Happel-Mannschaft wirklich war, präsentierte sie so richtig nämlich erst im zweiten Abschnitt, als Trapattoni auf die Schachzüge seines Gegenübers reagierte, Tardelli in zentralerer Rolle aufkam und plötzlich Juve den Ton angab.
Platinis Eingeständnis
Ganz uneitel nahm der amtierende und kommende deutsche Meister aber auch die passive Rolle an und bewies Nehmerqualitäten, selbst für tiefes Verteidigen war man sich phasenweise nicht zu schade. Dann mal wieder etwas höher stehen, ein wenig den Ball halten, auch mal einen Konter fahren, den Favoriten mit Happels Abseitsfalle zur Verzweiflung bringen. Und jeder lief kompromisslos für den Nebenmann. Von gekränkten Egos keine Spur. Noch nicht einmal auf italienischer Seite, wo Platini in der Schlussphase vehement einen Foulelfmeter gefordert hatte. "Daran lag es nicht. Der HSV war einfach besser", gab der Ausnahmekönner hinterher unverhohlen zu.
Tatsächlich hätten die Turiner sogar höher verlieren können. Während sie Hamburgs Stürmer Hrubesch und Bastrup zwar kaltgestellt bekamen, wurde ausgerechnet Platini-Bewacher Rolff zum offensiven Faktor. Noch in der ersten Hälfte hatte er vermeintlich auf 2:0 gestellt, der Abseitspfiff war eine Fehlentscheidung gewesen. Platini war den Weg gar nicht mitgegangen. So haben nicht die besseren Spieler das Landesmeister-Finale 1983 gewonnen. Aber die bessere Mannschaft.