Mit strengem Blick lehnt sich Marc-André ter Stegen herüber zu dem neben ihm auf dem Pressepodium des DFB sitzenden Mario Götze. Der Frankfurter Offensivspieler ist soeben gefragt worden, welcher Keeper schwerer zu überwinden sei: ter Stegen oder der derzeit verletzte Manuel Neuer. Ter Stegens Blick ist gespielt streng, doch Götze lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen: "Ich kenne beide schon sehr lange, beide sind Weltklasse und schwierig zu vergleichen", mauert sich der 30-Jährige hinter einer Schutzwand aus den gängigen Floskeln ein. "Schön herausgeredet …", kommentiert ter Stegen die geschickt-nichtssagenden Aussagen des Teamkollegen dann auch mit gespieltem Biss, ehe beide in Lachen ausbrechen.
Die Stimmung ist gut auf dem Podium. Erst recht bei ter Stegen. Bei seinem Klub FC Barcelona läuft es in der Liga prächtig, nach dem jüngsten Sieg im Clasico gegen Real Madrid (2:1) ist den Katalanen die Meisterschaft kaum noch zu nehmen. Zwölf Zähler beträgt der Vorsprung auf Real - vor allem dank der herausragenden Defensive. Erst neun Gegentore kassierte ter Stegen in der laufenden Saison, 19 Mal blieb er ohne Gegentor. Es sind herausragende Werte, die dem langjährigen Barça-Torhüter auch über Spaniens Landesgrenzen viel Anerkennung und Respekt eingebracht haben. Entsprechend selbstbewusst reiste er in dieser Woche zur Nationalmannschaft, wo er sich gleich die durch die Abwesenheit des verletzten Manuel Neuer vakante Rückennummer 1 sicherte.
"Ich wurde gefragt und ich habe okay gesagt", schildert er den Prozess unaufgeregt. Große Kampfansagen an die Adresse Neuer sind von ihm nicht zu vernehmen. Weder hier in Frankfurt. Noch in den vergangenen Wochen. Stattdessen schickt ter Stegen auch öffentlich jene Grüße an die Adresse seines langjährigen DFB-Konkurrenten, die er ihm auch direkt nach dessen Skiunfall persönlich übermittelt hatte: "Ich wünsche ihm, dass er schnell zurückkommt, dass er sich aber auch die Zeit nimmt, die er braucht." Eben das, was man als "Kollege, Freund und langer Wegbegleiter in der Nationalmannschaft" so wünscht.
Ter Stegen möchte Deutschlands Nummer 1 werden
An ter Stegens Ambitionen bestehen dennoch keine Zweifel: Er möchte Deutschlands Torhüter Nummer 1 werden. Nicht erst, wenn Neuers Karriere irgendwann endet. Sondern bei der Heim-EM 2024 in Deutschland. "Ich habe mein Ziel immer klar formuliert, werde es weiter klar verfolgen und alles dafür tun, dass es auch darauf hinausläuft", formuliert er seinen Anspruch einigermaßen vage - und doch verständlich. Am Ende zähle "der Leistungsgedanke". Im Klartext: ter Stegen möchte Flick durch gute Leistungen im Klub und beim DFB-Team keine Wahl lassen. Nach bislang 30 Länderspielen und elf Jahren im Kreis der Nationalmannschaft soll die Zeit der Wachablösung gekommen sein. Am Samstag gegen Peru und am Dienstag gegen Belgien wird er sich erstmals mit der neuen Nummer auf dem Rücken beweisen können.
Viel ist fraglos passiert seit seinem Debüt im Mai 2012 beim 3:5 in der Schweiz, als ter Stegens Nationalmannschaftskarriere denkbar unglücklich begann. "Für mich", sagt er im Rückblick, sei seine Premiere damals dennoch "ein Highlight" und "wichtiger Baustein" gewesen, "unabhängig von der Leistung und dem Resultat". Man hört es seinen Worten an: In seinen vielen Jahren beim FC Barcelona ist der frühere Gladbacher menschlich gereift. Er hat eine Familie gründet und ist fest verankert in der Stadt wie im Klub. Die "Ruhe und Erfahrung" habe ihn besser werden lassen, sagt er - und nennt auch Rückschläge als wichtige Elemente seiner Entwicklung. "Die ersten Spiele beim DFB-Team waren nicht immer ganz leicht", erinnert sich ter Stegen, "das war vielleicht auch dem Alter geschuldet. Aber diese Erfahrung nimmt man mit, sie begleiten einen und machen einen besser." Als Spieler wie als Mensch.
Ter Stegen: "Das vollendet mich"
Zu den Rückschlägen gehört fraglos auch die WM 2018. Auch damals war Neuer im Vorfeld verletzt, ter Stegens Chancen, als Nummer 1 ins Turnier zu starten, schienen groß. Doch Neuer kehrte pünktlich zum Turnier zurück, ter Stegen blieb erneut nur die Rolle des Zuschauers. Abgesehen von seiner erfolgreichen Teilnahme am Confed-Cup 2017, den er als Stammkeeper einer jungen DFB-Mannschaft gewann, ist er noch ohne Turnierspiel für Deutschland.
Als "unvollendet" würde er sich dennoch nicht bezeichnen. Als Fußballer gehe es zwar darum, "dass man erfolgreich ist und das Maximale erreichen möchte". Persönlich aber stehe die Familie und die Gesundheit im Vordergrund. "Das vollendet mich." Gegen eine EM als Nummer 1 aber würde sich ter Stegen ganz sicher nicht wehren.