DFB-Pokal

Essen-Trainer Neidhart im Interview: "Dann rasten wir total aus"

Essen-Trainer Neidhart im kicker-Interview

"Die Fans schrien schon: 'Die gleiche Scheiße wie jedes Jahr'"

Man muss auch mal einen Schritt zurückgehen, um zwei Schritte nach vorne zu kommen: Christian Neidhart.

Man muss auch mal einen Schritt zurückgehen, um zwei Schritte nach vorne zu kommen: Christian Neidhart. imago images

Herr Neidhart, wie haben Sie den Sieg im Achtelfinale gegen Bayer Leverkusen verkraftet?
Vor so einer Partie ist die Hoffnung, weiterzukommen, zumindest nicht riesengroß (lacht). Was da passiert ist, habe ich erst realisiert, als ich 200 Nachrichten auf dem Handy hatte. Dann war plötzlich auch das Medieninteresse größer. Natürlich ist die Meisterschaft für uns das Wichtigste, aber der Pokal ist da ein überragendes Zubrot.

Mussten Sie die Mannschaft danach etwas erden?
Die Fans hatten vor dem Spiel am Trainingsgeländer ein Banner aufgehängt auf dem stand: "Leverkusen soll nicht das Ende sein. Wir wollen Rot-Weiss Essen durch Europa schreien". Die hatten ein gutes Gespür, aber daran sieht man auch: Die Erwartungshaltung ist riesig. Die Jungs haben das dann genossen, aber waren schnell wieder fokussiert. Das lag auch daran, dass ja kurz nach dem Leverkusen-Spiel das wichtige Spiel gegen Dortmund II anstand. Hätten wir gewusst, dass es ausfällt, hätten wir wahrscheinlich die Sau rausgelassen.

Wie haben Sie die Pokalauslosung verfolgt? Als Wunschgegner hatten ja viele Essener einen "schlagbaren Zweitligisten" ausgegeben.
Ich hatte die Paarung sogar richtig getippt. Kiel ist für uns sicherlich angenehmer, als auf Leipzig, Wolfsburg oder Dortmund zu treffen. Ich denke, diese Paarung ist für beide Teams das perfekte Los. Wir wissen aber, dass die Erwartungshaltung von außen dadurch etwas steigt. Ich sehe das etwas besonnener. Für mich ist Kiel ein ambitioniertes Team, das in die Bundesliga aufsteigen kann. Wir wären aber schlechte Sportler, wenn wir knapp verlieren wollen würden. Deswegen wollen wir wieder einen klassischen Pokalfight hinlegen. Dass es klappen kann, haben wir gegen Leverkusen gesehen.

Wie gehen Sie mit diesem Erfolgslauf im Pokal um?
Wir Verantwortliche haben alle dasselbe Ziel: den Aufstieg. Aber natürlich wirst du immer hungriger, wenn du weiterkommst. Jetzt haben wir eine Chance ins Halbfinale einzuziehen. In der Liga ist es ja auch so, dass wir auf Platz 2 stehen. Daran sieht man, welcher Druck auf uns lastet. Ich persönlich finde es aber einfach geil, dass wir über ein Pokal-Viertelfinale sprechen dürfen und Rot-Weiss Essen wieder in den Schlagzeilen ist.

Wird der Viertligist RWE mehr beachtet als ihr Ex-Klub SV Meppen in der 3. Liga?
Das glaube ich nicht. Die Regionalliga wird von den überregionalen Medien aktuell stiefmütterlich behandelt. Essen wird vielleicht ein wenig mehr betrachtet, weil der Verein so groß ist. Stünde Meppen im Viertelfinale, wäre das sicherlich aber genauso.

Wieso gingen sie nach sieben Jahren von Drittligist Meppen zu Viertligist Essen?
Die Vorgeschichte war, dass ich in Meppen früh Gewissheit haben wollte, ob wir verlängern oder nicht. Ich habe immer mit offenen Karten gespielt und gesagt, dass ich mich sonst anderweitig umschaue. In der Corona-Phase gab es dann Kontakt zu RWE. Daraus hat sich eine Fantasie entwickelt, an die ich erst nicht geglaubt habe: Ob ich nicht nur in Meppen, sondern auch bei einem Traditionsverein wie Essen Erfolg haben kann.

Und wenn wir es hier mit dem Aufstieg schaffen, habe ich logischerweise auch mehr Möglichkeiten als in Meppen. Das ist ein großer Unterscheid. Ich hatte den Mut, einen Schritt zurückzugehen und weiß: Wenn wir es schaffen, geht es auch wieder zwei Schritte nach vorne. Das war für mich als Trainer wichtig. In Meppen waren wir ja keinesfalls erfolglos, da waren wir nahe an der 2. Liga. Aber die Frage ist, ob man das jedes Jahr so wiederholen kann oder man irgendwann an die Grenze kommt.

Klingt nach einer romantischen Geschichte zwischen Ihnen und RWE. Trainer bleiben in der Regel ja nicht lange in Essen.
Damit habe ich mich auch beschäftigt. Nach unserem ersten Spiel gegen Wiedenbrück - da gab es in der 93. Minute den Ausgleich zum 1:1 - schrien die ersten Fans schon "Die gleiche Scheiße wie jedes Jahr". Was da auf mich zukommt, wenn es nicht läuft, wusste ich aber. Jetzt haben wir uns aber über Monate Vertrauen erarbeitet, obwohl wir gar nicht greifbar sind. Die Fans sehen uns ja nur am Bildschirm und nicht einmal ein Training. Im Grunde erfahren sie alles nur aus der Zeitung. Das nervt natürlich.

Und wenn Sie nun am Mittwochabend ins Halbfinale einziehen?
Dann rasten wir mit der Mannschaft total aus.

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