kicker

Der kicker im Nationalsozialismus: "Es trieft vor Propaganda"

Buchvorstellung zur neuen Studie

Der kicker im Nationalsozialismus: "Es trieft vor Propaganda"

Das Buch zur Studie "Der kicker im Nationalsozialismus".

Das Buch zur Studie "Der kicker im Nationalsozialismus". kicker

Wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verabschiedete sich der wegen seiner jüdischen Abstammung in Deutschland nicht mehr erwünschte Walther Bensemann im März 1933 von seinem kicker, den er 1920 als Symbol der Versöhnung durch den Sport gegründet hatte.

Neue Studie anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des kicker

Es ist der Beginn eines dunklen und verhängnisvollen Kapitels in der Geschichte des Fachmagazins. Anlässlich seines 100-jährigen Jubiläums im Jahr 2020 gab der kicker bei den renommierten Historikern Prof. Dr. Lorenz Peiffer und Dr. Henry Wahlig eine neue wissenschaftliche Studie in Auftrag, um seine NS-Vergangenheit aufzuarbeiten.

Alles zum 100-jährigen Jubiläum des kicker 2020

Die Herausgeber gewannen als Autoren zahlreiche Expertinnen und Experten hinzu, die das digitale Archiv der Zeitschrift auswerteten. Das Ergebnis ist eine detaillierte, bisher einzigartige Dokumentation und Analyse, die an diesem Montag in Nürnberg vorgestellt wurde.

Herr Peiffer, Herr Wahlig, welche Relevanz hat die Aufarbeitung der Historie des kicker in der NS-Zeit über 75 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs?

Henry Wahlig: Der kicker ist die erste Sportpublikation, die sich ihrer Rolle in der NS-Zeit aktiv stellt. Soweit mir bekannt, sogar das erste noch bestehende Presseorgan überhaupt. Das hat Vorbildcharakter für die deutsche Sportpresse - und wahrscheinlich darüber hinaus. Der Sport war in der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit besonders spät dran und ist es teilweise bis heute, weil er sich immer noch als unpolitisch versteht oder als Opfer betrachtet.

Lorenz Peiffer: Es dauerte lange, bis sich die deutsche Gesellschaft mit der Zeit des Nationalsozialismus und vor allem mit der Rolle unterschiedlicher Institutionen in dem politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozess beschäftigt hat. Sicherlich auch aus berechtigten Ängsten vor dem, was als Ergebnis dieser Studien zutage treten würde.

Sie sind erfahrene Experten auf dem Gebiet Sport im Nationalsozialismus. Welche Erkenntnis über den kicker hat Sie dennoch überrascht?

Peiffer: Bislang hatte ich mich in erster Linie mit Zeitschriften wie dem Reichssportblatt oder der Deutschen Turnzeitung als Quellen beschäftigt. Dass ein Fachblatt Fußball politisch so schnell so nah an der Zeit gewesen ist, hat sich jetzt bei den Recherchen für die vorliegende Studie herausgestellt. Ab 1933 geht es im kicker plötzlich auch sehr dezidiert um die nationalsozialistische Sportpolitik und deren Selbstdarstellung. Das ist für mich eine neue Erkenntnis.

Der Kicker Im Nationalsozialismus

Der kicker im Nationalsozialismus - Vorstellung der historischen Studie

alle Videos in der Übersicht

Frappierendes Abkippen ins Gegenteil

Wahlig: Unter Walther Bensemann war der kicker das Aushängeschild einer weltoffenen, liberalen Sportauffassung. Frappierend, wirklich erschreckend ist, wie dieses Selbstverständnis innerhalb weniger Wochen völlig ins Gegenteil kippte. Das ist festzumachen an der Person des Hauptschriftleiters Hanns-Jakob Müllenbach, der zuvor 13 Jahre lang Bensemanns engster Wegbegleiter war und ihm seinen Aufstieg zu verdanken hatte. Unmittelbar nachdem Bensemann Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen musste, verfasst Müllenbach Artikel, in denen es vor Propaganda trieft.

Wie ist dieser schlagartige Wandel zu erklären?

Wahlig: Ob es primär Opportunismus ist oder doch auch ein tiefsitzender Antisemitismus, können wir nicht nachvollziehen. Aber es ist beispielhaft für die Biografien Zigtausender Menschen in dieser Zeit, die alte Freunde und Prinzipien vergessen und schnell auf Linie gehen. Müllenbach tut dies zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht dazu gezwungen ist, solche Propaganda zu machen. Das Schriftleitergesetz, das die Pressefreiheit endgültig beseitigt, tritt erst Anfang 1934 in Kraft. Damit trägt der kicker von sich aus dazu bei, das neue System zu stabilisieren.

Peiffer: Der eigentliche Zweig - die Fußballberichterstattung bis in die letzte Gauliga - findet unverändert statt. Daneben entsteht aber mit Sportpropaganda im Sinne der Regierung ein neues Format. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten wird hofiert, im Juni 1933 druckt der kicker einen Wahlaufruf. Die Auflösung der Verbände, der Übergang in ein dirigistisches System - all das wird positiv begleitet.

Fünffacher Anstieg der Auflage für ein Drittel des Preises

Wie populär ist der kicker in der NS-Zeit?

Wahlig: Die Auflage steigt zwischen 1933 und 1939 von 20.000 auf 100.000 Exemplare, während der Preis von 60 auf 20 Pfennig sinkt. Der kicker wird das amtliche Organ des Reichsfachamtes Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen. Das erhöht die Verbreitung in den Vereinen. Das Blatt floriert in einer schwierigen Zeit, in der das Radio und andere Medien an Einfluss gewinnen.

Welche Rolle hatte Verleger Max Willmy, in dessen Druckerei Der Stürmer gedruckt wurde?

Peiffer: Willmys Nähe zum System ist offensichtlich. Nicht nachzuvollziehen ist, welche Funktion er innerhalb des kicker hat, ob er nur die Druckerei zur Verfügung stellt oder auch inhaltlich Einfluss nimmt.

Die Autoren der neuen Studie über den kicker in der NS-Zeit: Henry Wahlig (li.) und Lorenz Pfeiffer.

Die Autoren der neuen Studie über den kicker in der NS-Zeit: Henry Wahlig (li.) und Lorenz Pfeiffer.

Wahlig: Es gibt keine internen Akten, keinen Schriftverkehr aus dieser Zeit zwischen Willmy, Müllenbach oder den Redakteuren untereinander. Die einzige Quelle, die wir haben, ist die Zeitung selbst. Was hinter den Kulissen ablief, wäre höchst spannend. Aber da gibt es nichts mehr.

Deutlicher Wandel nach Kriegsbeginn 1939 - Keine Berichte aus England

"Einig, furchtlos, treu" - der Titel Ihrer Studie zitiert die Überschrift eines Leitartikels von Müllenbach unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Was verändert sich ab 1939?

Wahlig: Mit Kriegsbeginn wandelt sich das Gesicht des kicker noch mal entscheidend. Ab dieser Phase ist alles tendenziös, es gibt mehrere Rubriken, die explizit Kriegspropaganda betreiben. Etwa Briefe von Soldaten, die früher im Fußball aktiv waren und nun schreiben: Ich bin in Russland, uns geht es gut. Auch eindeutige Kriegsberichte, die mit Fußball nichts zu tun haben.

Peiffer: Ganz deutlich wird der Wandel an der Berichterstattung über den englischen Fußball, der für den kicker in den 1920er Jahren eine herausragende Bedeutung hatte. Bis 1939 gibt es einen eigenen Berichterstatter in England, mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen bricht das von heute auf morgen ab. Andererseits wird nach dem Hitler-Stalin-Pakt plötzlich positiv über den sowjetischen Fußball berichtet. Das wiederum endet abrupt mit dem Einmarsch in die Sowjetunion.

Es gibt also einen klaren Zusammenhang zwischen politischen Ereignissen und der Themenauswahl.

Peiffer: Nach dem Überfall auf Polen startet plötzlich eine Reihe, wie der Fußball in Deutschland nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitergelaufen war. Ich weiß nicht, wie schnell Menschen manchmal arbeiten können. Aber dass so eine Reihe einfach aus dem Boden gestampft wird, verwundert dann schon.

Trotz Papierknappheit: Der kicker erscheint bis September 1944

Wie wirkt sich der Kriegsverlauf auf den kicker aus?

Wahlig: Solange es Positives zu berichten gibt, wird das intensiv breitgetreten. Sobald sich das dreht, gewinnt der kicker die neue Funktion, nach innen zu suggerieren, alles gehe normal weiter. Die klassische Fußballberichterstattung über die Spiele, die es noch gibt, wird bis zuletzt durchgehalten.

Peiffer: In den Personalnotizen finden sich zunächst viele Auszeichnungen für ehemalige Fußballer an der Front. 1942 gibt es dann mehrere Seiten mit Todesanzeigen gefallener Spieler. Das hört irgendwann auf, weil es zu viele sind. Das Heftchen wird auch immer dünner, am Ende hat es nur noch acht Seiten. Trotz Papierknappheit erscheint der kicker in einer gemeinsamen Ausgabe mit der Zeitschrift Fußball  bis September 1944. Damit ist die Bedeutung des Blattes für die Regierung herausgehoben.

Ihre Studie blickt auch auf die Nachkriegszeit. Bereits 1946 veröffentlichten einige frühere kicker-Redakteure im neu gegründeten Olympia-Verlag die Zeitschrift Sport, später Sport-Magazin. Ein echter Neubeginn?

Wahlig: In allen Bereichen des deutschen Lebens fand traurigerweise bis in die 1990er Jahre wenig Aufarbeitung statt. Da ist es nicht überraschend, dass auch beim kicker alle ihre Wege fortsetzen durften.

Peiffer: Unsere Studie macht an drei Beispielen klar, wie Redakteure im Nationalsozialismus involviert waren bis hin zur SS-Mitgliedschaft und wie nach 1945 in den Entnazifizierungsverfahren gelogen wurde. Dr. Friedebert Becker, der ab 1943 Schriftleiter von kicker und Fußball war und nach dem Krieg die erste Lizenz erhielt, war offensichtlich nie Mitglied der NSDAP. Er stand nicht auf der Seite der Propaganda, sondern stellte die Sache des Fußballs in den Vordergrund.

Cover: Der kicker Im Nationalsozialismus

Cover: Der kicker Im Nationalsozialismus kicker

1951 gelang Becker die Wiedergründung des kicker. In der ersten regulären Ausgabe hieß es, man wolle die Zeitschrift "im Geiste Bensemanns" weiterführen. Wurde das Erbe des Gründers tatsächlich bewahrt?

Wahlig: Der Name Bensemann wird nach dem Krieg über Jahrzehnte vergessen und erst in den vergangenen gut 15 Jahren immer stärker wiederentdeckt, vor allem durch die Einführung des Walther-Bensemann-Preises 2006. Heute kenne ich kaum eine Zeitung, die sich so sehr auf ihre Tradition und ihren Gründer beruft. Das war überfällig. Es gibt viele andere Fälle herausragender Spieler, Trainer oder Funktionäre jüdischer Herkunft, die aus der Geschichte getilgt und zum Teil bis heute nicht wiederentdeckt wurden.

Peiffer: Aber wie ist es mit Bensemanns Ideengut? Internationalismus, Friedensförderung. Der kicker muss für sich entscheiden, ob er den gesellschaftlichen Auftrag, den Bensemann gesetzt hat, explizit wahrnehmen möchte. Etwa bei Themen wie der WM in Katar.

Interview: David Bernreuther

Das Buch: "Einig. Furchtlos. Treu." Der kicker im Nationalsozialismus - eine Aufarbeitung

Verlag: Die Werkstatt, Herausgeber: Lorenz Peiffer, Henry Wahlig, Preis: 39,90 Euro, 432 Seiten

Hier geht es zum Bestell-Formular

Zusätzlich bestellbar per E-Mail unter kicker@kicker-onlineshop.de oder telefonisch unter 0911-216 2222

Thema Logo 100 Jahre
Zum Jubiläum des Fachmagazins

Lesestücke aus 100 Jahren Fußball

zum Thema
  • Am 14. Juli 1920 gründet Walther Bensemann die Fußballzeitschrift "Der Kicker".
  • Aus einer 20 Seiten starken Erstausgabe entwickelte sich der "kicker" zu einer anerkannten Marke - gedruckt und digital.
  • Im Zentrum des kicker steht immer der Fußball. Hier finden Sie Lesestücke von unseren Reportern zu allen Facetten dieses wunderbaren Spiels.