2. Bundesliga

Wie Fanprojekt-Mitarbeiter fast im Gefängnis gelandet wären

Fall der Sozialarbeiter hat Konsequenzen über den Fußball hinaus

Dammbruch in Karlsruhe: Wie drei Fanprojekt-Mitarbeiter fast im Gefängnis gelandet wären

Karlsruhe: Ein Fall der Sozialarbeiter hat Konsequenzen über den Fußball hinaus.

Karlsruhe: Ein Fall der Sozialarbeiter hat Konsequenzen über den Fußball hinaus. IMAGO/Eibner

Es war kein normales Gespräch, das die drei Mitarbeiter des Karlsruher Fanprojekts an einem Nachmittag Ende März am großen Tisch ihres Büros führen mussten. Statt in der Container-Übergangsheimat südöstlich des Wildparkstadions wie sonst über den Karlsruher SC, die Fanszene und das Fanprojekt zu diskutieren, ging es um ein Thema, das die bisherige Zusammenarbeit verändern sollte. Sophia Gerschel, Volker Körenzig und Sebastian Staneke mussten der Handvoll Fanvertreter berichten, dass sie von der Staatsanwaltschaft in Karlsruhe als Zeugen gegen die eigenen Klienten vorgeladen wurden und dass sich dieser Fall wohl hinziehen würde - Konsequenzen für alle ungewiss.

Zumindest die letztmögliche Eskalationsstufe ist nicht zur Realität geworden. Nach der dritten und finalen Vernehmung am vergangenen Montag hat die Staatsanwaltschaft nicht wie angedroht Beugehaft für die Mitarbeiter beantragt, weil sie die Aussage verweigern. Dafür drohen neue Konsequenzen: Nun wird geprüft, ob ein Verfahren wegen des Verdachts der Strafvereitelung eingeleitet wird - aus den Zeugen würden Tatverdächtige. Der Vorgang ist aber schon jetzt ein Dammbruch und stellt die Arbeit aller Fanprojekte infrage.

Choreographie mit Pyrotechnik als Auslöser

Wie kam es dazu? Mitte November 2022 war eine Choreografie mit Pyrotechnik anlässlich des Geburtstags einer Fan-Gruppierung des KSC schiefgelaufen. Durch dichten Rauch, der sich unter dem Dach der neu gebauten Tribüne fing, wurden mehr als zehn Personen verletzt. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Parallel dazu veranstaltete das Fanprojekt eine Aussprache zwischen Fanszene und Betroffenen. Im Januar folgten Hausdurchsuchungen, bei denen die Strafermittler von diesem Gespräch erfuhren und die drei Mitarbeiter als Zeugen vorluden. "Für uns stand aber von Anfang an fest, dass wir nicht aussagen werden", erklärt Gerschel, Sozialarbeiterin und zugleich Vertreterin der BAG Fanprojekte, "das geht nicht. Ein vertrauliches Gespräch in unseren Räumlichkeiten kann nicht für die Strafverfolgung genutzt werden." Also verweigerten die drei Mitarbeiter bis zuletzt und trotz eines Ordnungsgelds die Aussage.

Für ihre Position als Mittler zwischen Fans, Verein und Polizei waren ohnehin schon die Vorladungen verhängnisvoll. "Die Fanszene überlegt, inwieweit sie noch mit dem Fanprojekt zusammenarbeiten kann, wenn niemand sicher sein kann, dass alles in einem geschützten Rahmen stattfindet", erklärt Gerschel, "da geht es weniger um Fehltritte, sondern vor allem um persönliche Probleme. Es wird nicht uns als Personen misstraut, sondern der Institution Fanprojekt. Und das ist das Schlimmste, was uns passieren kann."

Zustimmung aus Frankfurt

Das unter der Trägerschaft des Stadtjugendausschusses stehende Fanprojekt in Karlsruhe ist eines der ältesten in Deutschland und genießt einen hervorragenden Ruf. Die Mitarbeiter sind Ansprechpartner für vor allem jugendliche Fans, begleiten sie an Spieltagen, sind Teil der Sicherheitsbesprechungen, vermitteln und leisten Präventivarbeit gegen Gewalt, Diskriminierung und Extremismus. "Karlsruhe ist ein unglaublich etablierter Standort mit absoluter Anerkennung auf allen Ebenen", sagt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte KOS, "das wird alles infrage gestellt. Ich halte das für ein sehr kurzsichtiges Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Auch ohne den Antrag auf Beugehaft haben sie das bisher so stabile Netzwerk in Karlsruhe gefährdet."

Vermittler unter Druck

Vermittler unter Druck: Sebastian Staneke, Sophia Gerschel und Volker Körenzig (v. li.). KSC-Fanprojekt

Dem stimmt Philipp Reschke, Vorstand bei Eintracht Frankfurt, zu: "Die Vermittlerrolle der Fanprojekte als unabhängige Instanz ist von unschätzbarem Wert in der Fanarbeit der letzten 30 Jahre. Dieser Arbeit wird das Fundament entzogen, wenn die Mitarbeiter - wie in Karlsruhe nun der Fall - gerichtlich zur Aussage genötigt werden sollen oder anderenfalls ein Verfahren wegen Strafvereitelung zu befürchten haben."

Es droht ein Präzedenzfall

Der Fall sorgt auch ohne den Antrag auf Beugehaft über die Stadt hinaus für große Unsicherheit bei den anderen Fanprojekten. "Junge Menschen müssen sich sicher sein, dass sie sich uns mit allen möglichen Problemen anvertrauen können und die Information bei uns sicher ist", sagt Gabriel, "es ist eine prinzipielle Frage: Wenn die Polizei an uns herantritt, geraten die Mitarbeitenden zwangsläufig in ein Dilemma. Wenn nicht gewährleistet ist, dass die Information bei uns bleibt, vertrauen sich die Jugendlichen uns nicht mehr an. Wir können sie nicht mehr erreichen, der Kern der Arbeit ist bedroht." Seit vielen Jahren arbeiten die Fanprojekte um diese Zwangslage herum. Vorladungen wie in Karlsruhe sind kein Einzelfall - doch bisher wurden die Fälle in Gesprächen früher gelöst.

Es droht ein Präzedenzfall weit über die Fanprojekte hinaus. Im Kern steht ein Dilemma, das die meisten Menschen in der Sozialen Arbeit betrifft. Die Basis des Berufsfelds ist die Gewissheit, dass anvertraute Informationen sicher sind und nicht in den Händen der Strafverfolgung landen. Das ist sogar juristisch verankert, nach Paragraf 203 des Strafgesetzbuchs unterliegen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen der strafrechtlichen Schweigepflicht. Zudem gilt für sie das Sozialgeheimnis. "Das besagt, dass bei sozialpädagogischer Tätigkeit zwischen den Betroffenen und den Sozialpädagogen ein Vertrauensverhältnis besteht und damit eine Pflicht zur Verschwiegenheit und Geheimhaltung", erklärt der Münchner Jurist Marco Noli aus der AG Fananwälte.

Vertrauensverhältnis wird gefährdet

Dem aber steht die Aufgabe der Strafverfolgung entgegen, die sich darauf beruft, zum Ermitteln verpflichtet zu sein und alle Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen - also auch die Aussagen der Fanprojekt-Mitarbeiter. Denen blieben zwei Optionen: schweigen trotz der Gefahr der Beugehaft oder das möglicherweise rechtswidrige Preisgeben von vertraulichen Einblicken. Noli findet, dass die Staatsanwaltschaft zu weit gegangen ist: "Es gibt Grenzen in ihrer Ermittlungspflicht, sie ist an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden." Dagegen habe sie verstoßen: "Wegen des überragenden Wertes der präventiven Arbeit der Fanprojekte ist in Fällen wie dem vorliegenden ein Eingriff in das Sozialgeheimnis völlig unangemessen. Es kann nicht sein, dass dafür eine Aussagepflicht besteht."

Auch wenn die Staatsanwaltschaft betont, dass die Mitarbeiter "im Rahmen ihrer Jugendsozialarbeit grundsätzlich auf einen auch vertraulichen Umgang angewiesen sind" und dies "im Rahmen der Zeugenvernehmungen berücksichtigt" worden sei: Es bleiben Fragen, ob der Vorfall aus juristischer Sicht relevant genug ist, um das Vertrauensverhältnis in eine ganze Berufsgruppe zu gefährden.

Unseren Handlungsoptionen werden Grenzen gesetzt.

Georg Grohmann

Möglicherweise aber taugt er dazu, in diesen rechtlichen Graubereich endlich Klarheit zu bekommen. Seit Jahrzehnten wird für alle Sozialarbeiter ein Zeugnisverweigerungsrecht gefordert, wie es unter anderem Juristen, Ärzte, Geistliche und Journalisten besitzen, Sozialarbeiter bisher aber nur in der Sucht- und in der Schwangerschaftskonfliktberatung. Georg Grohmann ist Sprecher des Bündnisses für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit und sagt: "Unsere Arbeit findet innerhalb eines permanenten juristischen Widerspruchs einer beruflichen Schweigepflicht auf der einen Seite und dem fehlenden Zeugnisverweigerungsrecht auf der anderen Seite statt."

Das bedeutet für viele Sozialarbeiter, dass sie in Gesprächen Grenzen ziehen müssen, damit das Wissen um Straftaten sie nicht selbst in Bedrängnis bringt: "Die Folge ist, dass der Teil der Arbeit nicht mehr stattfindet, in dem es um Verantwortung, Konsequenzen und mögliches Verhalten in der Zukunft geht. Unseren Handlungsoptionen werden Grenzen gesetzt." Das sieht auch Gabriel so. "Wir wissen als KOS, dass schon eine Reihe von Kollegen die Fanprojekte verlassen haben, weil sie kein Zeugnisverweigerungsrecht besitzen." Die Koordinationsstelle gab sogar ein Rechtsgutachten in Auftrag. Demnach sei ein Zeugnisverweigerungsrecht sinnvoll und umsetzbar.

Die Politik ist gefragt

Eine Änderung müsste aus der Politik kommen. Doch die Chancen stehen schlecht, obwohl sich die Grünen-Fraktion darum bemüht. "Ich befürchte, dass wir dafür aktuell keine politischen Mehrheiten im Deutschen Bundestag haben", sagt Philip Krämer, stellvertretender Vorsitzender im Sportausschuss. Der Grünen-Politiker kennt den Fall: "Die Zeugenvorladung durch Polizei und Staatsanwalt war rechtlich natürlich zulässig, stellt aber die Arbeit des Fanprojekts Karlsruhe existenziell infrage. Ohne Fanprojekt aber, welches in die junge, aktive Fanszene vermittelt, würde es in Zukunft für die Polizei nicht einfacher, den Kontakt zu halten." Es bestehe "vielmehr die Gefahr, dass aktive Fans und Polizei in Zukunft keinen Kommunikationskanal mehr haben".

Zumindest ein bisschen Bewegung gibt es. "Die Tür auf bundespolitischer Ebene ist einen Spalt offen", glaubt Grohmann. In Sachsen hat die Koalition aus CDU, SPD und Grünen das Thema im Landtag diskutierten lassen und will nun eine Bundesrats-Initiative starten. Für mehr Tempo bedarf es mehr Druck von allen Seiten. "Es ist zynisch, dass es eine Situation braucht, in der Menschen Beugehaft fürchten mussten", findet der Bündnis-Sprecher, "das ist hochdramatisch." Dennoch könnte die Aufmerksamkeit der gesamten Sozialen Arbeit helfen.

Das Thema hat längst den deutschen Fußball erreicht und wurde auf der letzten Sitzung der verbandsgeführten Kommission Fans und Fankulturen Anfang Juni besprochen. "Der Fußball muss seiner gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen und seine Verbindungen in die Politik nutzen", findet Annabell Kolbe, die als Fanvertreterin in der Kommission sitzt: "Die Verbände haben den Auftrag, eine Haltung dazu zu entwickeln." Reschke als Vertreter der Vereine positioniert sich ebenfalls klar: "Der Gesetzgeber ist gefordert, hier eine kluge gesetzliche Lösung zu entwickeln, um den Sozialarbeitern durch ein Zeugnisverweigerungsrecht den Schutzbereich zu schaffen, den sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben in unser aller Sinne benötigen", sagt der Vorstand von Eintracht Frankfurt, weiß aber auch: "Das wird sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, wenn es überhaupt gelingt."

Bis dahin plädiert er dafür, dass "es wie bisher ein ungeschriebenes Gesetz gibt, dass weder Fanprojekt-Mitarbeiter noch Fanbeauftragte in staatliche Ermittlungsarbeit hineingezogen werden sollten". Das habe sich bewährt. "An den meisten Standorten funktioniert das sehr gut, denn am Ende hängt die Funktionalität des gesamten Netzwerks zwischen Fans, Fanprojekten, Klubs und Polizei davon ab, dass in diesem Punkt alle ein gemeinsames Verständnis haben. Hoffentlich bald auch wieder in Karlsruhe."

Patrick Kleinmann

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