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Boninsegna im Interview: "Die Büchse hat mich getroffen - ich schwöre"

Zum 80. Geburtstag

Boninsegna im Interview: "Die Büchse hat mich getroffen - ich schwöre"

Roberto Boninsegna links beim Abtransport in Gladbach, in der Mitte im Nationaltrikot, rechts im Jahr 2019.

Roberto Boninsegna links beim Abtransport in Gladbach, in der Mitte im Nationaltrikot, rechts im Jahr 2019. imago images (3)

Sie werden stolze 80 Jahre, da können wir gleich legendär anfangen: 17. Juni 1970, im Aztekenstadion läuft gegen Deutschland die 111. Minute …

… und ich laufe mich schweißnass auf der linken Seite frei. Capitano Facchetti schaufelt mir die Kugel zu. Eigentlich wollte ich aufs Tor zimmern, doch der Ball hoppelte zu weit nach außen. Mit letzter Kraft gehe ich an Willi Schulz vorbei und spiele blind zurück. Ich dachte, Rivera oder Riva werden da schon stehen. In der Tat war Gianni Rivera da und machte das 4:3. Ein denkwürdiger Moment.

Und der Finaleinzug.

Ja, aber ob wir oder Deutschland, beide hätten das Endspiel vier Tage später gegen Brasilien verloren. Wir haben uns 120 Minuten massakriert, alle Spieler waren am Ende.

Das WM-Halbfinale 1970

Dabei schien die Partie eigentlich schon zugunsten von Italien gelaufen.

Und dann glich Schnellinger in der 90. Minute aus. Sein einziges Tor überhaupt für Deutschland, das muss man sich mal vorstellen. Rivera und er waren ja bei Milan, und Gianni ging in der Pause der Verlängerung zu ihm und fauchte: Was zur Hölle bist du eigentlich da vorne rumgeturnt?

Schnellinger sagte: Ich dachte, der Schiri pfeift eh gleich ab. Euer Tor war in der Nähe der Kabinen, und dahin wollte ich gleich verschwinden.

Roberto Boninsegna

Und Schnellinger?

Der sagte: Ich dachte, der Schiri pfeift eh gleich ab. Euer Tor war in der Nähe der Kabinen, und dahin wollte ich gleich verschwinden. Letztlich muss man ihm dankbar sein, ohne Schnellinger hätte es kein Jahrhundertspiel gegeben. Eine kollektive Erinnerung, nicht bloß sportlich, vielmehr soziologisch.

Dank eines Kollektivs großer Namen.

Absolut. Bei den Deutschen spielten Maier, Vogts, Grabowski, Müller, der Kaiser mit lädierter Schulter, der jeden Moment in Ohnmacht zu fallen schien - grande Germania! Aber einer gefiel mir immer am besten.

Und zwar?

Wolfgang Overath. Ich nannte ihn "Pinsel", denn mit seiner Linken malte er herausragende Gemälde.

Eins muss ich zum Finale sagen: Unser Trainer Ferruccio Valcareggi machte alles falsch.

Roberto Boninsegna

War Pelé im Finale der beste Spieler, den Sie je erlebt haben?

Pelé war der Maestro des Orchesters, er war fehlerfrei und im Grunde der personifizierte Fußball. Eins muss ich aber zum Finale sagen.

Bitte.

Unser Trainer Ferruccio Valcareggi machte alles falsch und ließ Rivera lange auf der Bank. Gianni hatte gerade erst den Ballon d’Or gewonnen, und Pelé dachte sich sicher: Die lassen solch ein Genie draußen? Was muss Italien für eine überirdische Mannschaft haben (lacht).

Zur Person

  • Roberto Boninsegna, am 13. November 1943 in Mantua geboren, ist einer der besten Stürmer Italiens. 1970 in Mexiko wurde er Vizeweltmeister. Neben Gino Colaussi und Paolo Rossi ist er einer von drei Italienern, die in einem WM-Halbfinale und im Endspiel trafen. Mit Inter Mailand (1971) und Juventus (1977, 1978) wurde er Meister, mit den Turinern gewann er zudem den UEFA-Pokal (1977) und die Coppa Italia (1979).

Wie kamen Sie einst zum Fußball?

Schon vor der Geburt. Meine Mama war großer Fan unseres Heimatklubs Mantova, verpasste keine Partie. Als sie mit mir im achten Monat schwanger war, sagte der Ordner: Elsa, geh nach Hause, du willst doch wohl nicht hier deinen Sohn zur Welt bringen. Mama erwiderte: Keine Sorge, ich habe eine Hebamme mitgebracht - und ging auf die Tribüne.

Und Sie wurden trotzdem Inter-Fan?

Meine Liebe, schon als Pimpf gibt es Fotos von mir im Inter-Trikot. Das hatte mir meine Mutter genäht, aber zuerst völlig verkehrt. Vorne schwarz und der Rücken blau (lacht). Ich sagte: Mama, das muss schwarz-blau gestreift sein! Sie stöhnte und musste von vorne anfangen.

Der Durchbruch in der Serie A gelang Ihnen aber zunächst im Cagliari-Dress.

Ich durchlief die ganze Inter-Jugend, aber Coach Helenio Herrera zählte nicht auf mich, und der Klub lieh mich sechs Jahre aus. In dieser Zeit holte Inter einen Titel nach dem anderen, und ich litt wie ein Hund, weil ich nicht dabei war. 1966 kam Cagliari, ich stürmte neben dem gigantischen Gigi Riva, wir wurden sogar Vizemeister. Doch einmal riskierten wir auch unsere Gesundheit.

Wir waren überall blutig und mussten schön einstecken, haben aber auch fünf, sechs niedergestreckt.

Roberto Boninsegna

Warum das?

Im Mitropa-Cup spielten wir in Skopje und zwischen Jugoslawien und Italien waren es auf dem Platz immer üble Gefechte. Gegen Ende stürmten die Fans den Platz und unser Brasilianer Nené rannte in die Kabine und der Höllenhund sperrte ab! Riva und ich hämmerten gegen die Tür: Mach auf! In der Zwischenzeit lief es wie in einem Film mit Bud Spencer und Terence Hill: Faustschläge, Tritte - wir waren überall blutig und mussten schön einstecken, haben aber auch fünf, sechs niedergestreckt. Ich würde sagen, es ging remis aus (schmunzelt).

Cagliari nahm 1967 an einer Meisterschaft in den USA teil. Was war das?

Die Amerikaner wollten den Soccer pushen, südamerikanische und europäische Klubs spielten eine Kurz-Meisterschaft unter US-Städte- namen. Wir waren die Chicago Mustangs. Eine nette Erfahrung, für uns war es bezahlter Urlaub. Wir wohnten in einem Hotel, das Frank Sinatra gehörte, und es gab eine hübsche Summe Dollar. Leider waren wir auch in Las Vegas, da waren meine Dollars schnell futsch (lacht). Immerhin wurde ich Torschützenkönig.

1969 dann: heim zur großen Liebe.

Zur Grande Inter mit Ausnahmespielern wie Giacinto Facchetti, Sandro Mazzola, Mario Corso, Luis Suarez. Ich war 25 und siezte sie anfangs, ich kam ja aus Cagliari. Es lief dann aber phänomenal: Torschützenkönig und Scudetto mit dem geliebten Klub.

Ich bin zu alt, um zu flunkern.

Roberto Boninsegna

Nach der Meisterschaft kam dann im Oktober 1971 beim 1:7 in Gladbach die ominöse Cola-Dose …

Darauf habe ich gewartet (lacht). Es ist eigentlich immer das Erste, das die Deutschen erwähnen. Einmal war ich bei einem Essen in Verona mit Hans-Peter Briegel, und er grüßte mich mit: Bobo, ich bestelle dir sofort mal eine Coca-Cola.

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Ein für alle Mal, Hand aufs Herz: Hat Sie die Dose in Gladbach getroffen?

Ich weiß ja, dass mir in Deutschland nie jemand geglaubt hat, doch ich schwöre nach all den Jahren bei allem, was mir lieb und teuer ist, dass ich wirklich getroffen wurde. Das Publikum war ja ganz nah, und als ich den Ball an der Seitenlinie aufnahm, flogen mehrere Cola-Dosen. Eine traf mich hart am Hinterkopf. In der Kabine bezeugte es auch der französische UEFA-Delegierte, als er meine blutende Kopfwunde sah.

Die Gladbacher überzeugte das wenig.

Es ist trotzdem die reine Wahrheit, ich bin zu alt, um zu flunkern. Außerdem hatte ich vorher das 1:1 gemacht, und es stand bei dem Zwischenfall 1:2 - das war für auswärts ein gutes Resultat. Warum sollte ich da schauspielern? Dazu war ich nie der Typ, wenn ich am Boden lag, hatte ein Verteidiger ganze Arbeit geleistet.

Tore, Klagen, Polizei: Der Büchsenwurf in Bildern

Einen Schauspieler-Job erhielten Sie 1989 dennoch. Wie kam es dazu?

Facchetti rief an, Regisseur Salvatore Nocita, ein Inter-Fan, würde für eine Mini-Serie mit Alberto Sordi und Burt Lancaster einen Nebendarsteller suchen. Ich fragte Facchetti: Warum machst du das nicht? Er antwortete: Ich bin groß, blond und sehe gut aus, die Rolle ist für einen Leichenträger, da bist du besser geeignet (lacht).

Zuvor wurde Ihre Liebe beerdigt und Sie wurden zu Juventus verschoben.

Ich wollte ja ewig bei Inter bleiben. Doch wenn damals der Klub entschied, musstest du wechseln. Letztlich brachte mir dies noch vier Titel.

Meine Frau ist der einzige Vorstopper, den ich nie ausdribbeln konnte.

Roberto Boninsegna

Wie war Trainer Giovanni Trapattoni?

Er war noch ziemlich jung, hatte erst eine Saison als Chefcoach bei Milan hinter sich. Immer offen, ehrlich, ein harter Arbeiter. Manche Ratschläge hätte er sich aber sparen können.

Zum Beispiel?

Einmal schoss ich im Training daneben, da kam er: Bobo, ich zeige dir, was du falsch machst. Leider war ich ehrlich, sagte: So so, Mister, zeigen Sie mal. Übrigens, wie viele Tore haben Sie in der Karriere erzielt? Sechs. Ich fast 200, ich weiß schon, wie das geht. Spieler und Journalisten prusteten, und ich bekam eine satte Geldstrafe.

Und jetzt sind Sie im Hauptberuf Opa?

Mein Leben ist herrlich. Der Sohn ist Anwalt, meine Tochter Psychologin, ich bin ihr Patient (lacht). Vier Enkel und seit 55 Jahren mit meiner Frau zusammen, der einzige Vorstopper, den ich nie ausdribbeln konnte.

Interview: Oliver Birkner