Int. Fußball

Wie viel Märchen steckt in Royale Union Saint-Gilloise?

Ein Pokerspieler und Big Data

Aufsteiger auf Meisterkurs: Wie viel Märchen steckt wirklich in Union Saint-Gilloise?

Mischen die Jupiler League weiter auf: Undav (Mi.) und Co.

Mischen die Jupiler League weiter auf: Undav (Mi.) und Co. imago images

In Europa dürfte bis vor wenigen Wochen kaum jemand die Royale Union Saint-Gilloise gekannt haben. Das hat sich allerdings grundlegend geändert - die Story ist doch zu gut und erinnert zumindest in Deutschland ein wenig an den 1. FC Kaiserslautern. Der belgische Klub ist zweifellos ein Traditionsverein, doch sportlich erfolgreich war er eben schon ewig nicht mehr - bis in die vierte Liga ging es zeitweise hinunter. In der weit über hundertjährigen Geschichte liegen die insgesamt elf Meisterschaften entsprechend lange zurück, zuletzt ging der Titel 1935 an den Verein aus der Hauptstadt Brüssel. 

Doch jetzt könnte der Aufsteiger - wie der FCK 1998 in der Bundesliga - sensationell Meister werden, auch wenn der Weg dorthin trotz souveräner Tabellenführung noch lang ist: Der große Vorsprung bringt am Ende nur bedingt etwas, weil die besten vier Teams der Jupiler Pro League dummerweise noch in eine Meisterrunde müssen.

Das Stadion ist ein marodes Schmuckstück

Stade Joseph Marien

Kaum von den umliegenden Häusern zu unterscheiden: Das Stade Joseph Marien. imago/Belga

Doch wie viel modernes Fußballmärchen steckt in diesem womöglich spektakulären Coup? Allein das Stadion dürfte die Herzen vieler Romantiker höherschlagen lassen. Das Stade Joseph Marien ist seit 1919 die Heimspielstätte des 1897 gegründeten Vereins, und so sieht es auch aus. Über die Chaussee de Bruxelles kommend, fällt es zwischen den Wohnhäusern kaum auf. Der marode Charme bleibt auch im kleinen Rund des knapp 10.000 Zuschauer fassenden Stadions erhalten. Fast schon bedauerlich, dass eine neue und größere Arena geplant ist.

Bemerkenswert ist natürlich auch der kometenhafte Aufstieg von Deniz Undav. Der Ex-Meppener war im Sommer 2020 über die 3. Liga nach Belgien gekommen. In der vergangenen Saison steuerte er 17 Tore zum Aufstieg bei. Aktuell hat der Aufsteiger sieben Punkte Vorsprung auf Royal Antwerp - und satte 20 der 59 Tore gehen auf die Kappe des 25-Jährigen, der Karim Benzema als sein Vorbild nennt. Weniger ins romantische Bild passt dagegen sein Wechsel im Sommer in die Premier League zu Brighton & Hove Albion - doch dazu später.

Undav: "Ich wollte unbedingt Teil des Projekts sein"

"Der Plan des Klubs war, so schnell wie möglich in die 1. Liga aufzusteigen. Das hat meine Lust auf den Wechsel natürlich befeuert - ich wollte unbedingt Teil des Projekts sein", hatte Undav im Januar im kicker-Interview seinen Wechsel nach Belgien erklärt. "Dass wir den Verein dann tatsächlich schon im Sommer 2021 erstmals seit mehr als 50 Jahren zurück in die höchste belgische Liga gebracht haben, war ein überragendes Gefühl." Trainer Felice Mazzu, seit Mai 2020 im Amt, sagte zuletzt im Gespräch mit dem ZDF: "Ja, es ist wirklich ein Märchen, wenn eine Mannschaft aufsteigt und weiterhin gewinnt."

Aufstiegsparty 2021

Aufstiegsparty: 2021 kehrte Union Saint-Gilloise in die erste belgische Liga zurück.  BELGA MAG/AFP via Getty Images

Ein deutscher Millionär und ein Pokerspieler aus England

Doch wie ist es zu erklären, dass Union Saint-Gilloise überhaupt wieder aus den Tiefen des belgischen Fußballs aufgetaucht ist? Hier beginnt der weniger romantische Teil, der eben auch zur Geschichte gehört und über einen deutschen Millionär zu einem pokernden Engländer führt.

Zunächst stieg der deutsche Multimillionär Jürgen Baatzsch beim belgischen Klub ein und wurde dort 2015 Präsident. Die nächste Entwicklungsstufe folgte 2018, als Tony Bloom die Mehrheit vom Deutschen übernahm. Der Engländer ist als Fußball-Investor kein Unbekannter und mit seinem Geld Vorsitzender beim Premier-League-Klub Brighton, dem er schon als Kind als Fan verbunden war.

Bloom ist studierter Mathematiker und verdiente sein Vermögen unter anderem beim Pokern und mit Sportwetten. Mit den Seagulls ist ihm zwar der Aufstieg in die Premier League gelungen, doch ein Meister-Coup, wie ihn Underdog Leicester 2016 geschafft hatte, ist derzeit unerreichbar.

Belgisches Spielzeug für reiche Millionäre

Im kleinen Belgien lässt sich da durch ein Engagement in einen Traditionsverein womöglich mit weniger Einsatz deutlich mehr erreichen - in der Jupiler Pro League tummeln sich so einige Investoren. Bloom bringt sich selbst auf sportlicher Ebene - wenn überhaupt - nur hinter den Kulissen ein. Dafür installierte er seinen langjährigen Geschäftspartner Alex Muzio.

Muzio, der auch rund zehn Prozent der Anteile am Klub hält, arbeitete in Blooms Unternehmen Starlizard über zwölf Jahre. Die Firma spielt bei alledem wohl keine ganz unbedeutende Rolle. Das Unternehmen sammelt unzählige Daten zu Spielern und Mannschaften und berät damit Sportwetter. Oder wird hier auch bei der Verpflichtung von Spielern auf Big Data zurückgegriffen?

Datenbasierte Transferpolitik ist nun nichts gänzlich Neues und findet sich beispielsweise auch bei den Klubs Brentford (England) und Midtjylland (Dänemark). Hinter Brentford steht mit Matthew Benham ebenfalls ein Multimillionär, der viel Geld mit Sportwetten verdient hat. Das Konzept hinter den Vereinen: Aufgrund von vielen Statistiken und Datenanalysen werden Spieler, die bei anderen Klubs schnell mal durchs Raster fallen, für überschaubare Summen verpflichtet. (Der Ex-Bochumer Vitaly Janelt erklärte im kicker-Interview das Prinzip Brentford.)

Syrianos: "Produkte von der Stange bieten keinen Wettbewerbsvorteil"

Georgios Syrianos, der 2021 vom VfB Stuttgart als Kaderplaner zum englischen Zweitligisten Nottingham Forest gewechselt ist, unterstützt seinen neuen Arbeitgeber mit seinen Datenanalysen und sagt gegenüber dem kicker, dass er Starlizard "sehr interessant" findet: "Es gibt mittlerweile eine Reihe an ähnlichen Firmen und Portalen. Opta, Statsbomb, MPS, Ortec etc."

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Dabei gebe es leichte Abweichungen, wie die Daten erhoben werden. "Die meisten Vereine kaufen fertige Portale ein, weil sie intern nicht die Expertise haben, die Rohdaten in statistische Modelle umzuwandeln. Die Datenanbieter bieten dann eigens entwickelte Modelle zur Bewertung von Spielern", erzählt Syrianos und gibt zu bedenken: "Das Problem hierbei ist, dass Produkte von der Stange keinen Wettbewerbsvorteil bieten, wenn vier oder fünf deiner Konkurrenten innerhalb der Liga das gleiche Produkt nutzen." (Lesen Sie hier ein ausführliches Interview mit Syrianos)

Algorithmen und Datenbanken bestimmen die Transfers

Bei Union Saint-Gilloise ist jedenfalls eine bunte Truppe aus aller Herren Länder in den letzten Jahren zusammengekommen. USG dürfte seine Spieler nach ähnlichen Prinzipien rekrutieren, wie Blooms Unternehmen Starlizard den Wert von Sportwetten ermittelt: mit akribischer Datenanalyse.

Hoffen auf den großen Coup: die Fans von USG.

Hoffen auf den großen Coup: die Fans von USG. picture alliance / PRO SHOTS

Nach dem Aufstieg delegierte er zudem talentierte Spieler wie den Japaner Kaoru Mitoma und den Polen Kacper Kozlowski von Brighton nach Belgien. Undav scheint derweil zu gut für Belgien geworden zu sein und nahm im Winter den umgekehrten Weg - ehe ein anderer Klub zuschlägt. Doch die schöne Geschichte in Belgien darf er noch vollenden, für die restliche Saison wurde er an den belgischen Spitzenreiter zurück verliehen.

Trainer Mazzu macht sich nichts vor und rechnet ohnehin nicht damit, seinen Kader halten zu können. "Ich fürchte es nicht, ich weiß, dass Spieler gehen werden", sagt der Belgier. "Wir haben hier Spieler, die explodiert sind. Da wird es Angebote von Klubs mit großem Namen geben. Darauf müssen wir vorbereitet sein." Doch dann werden eben wieder Algorithmen und Datenbanken angeschmissen und die nächste Generation an Spielern vorgeschlagen.

Ob das jetzt alles nach einem modernen Fußballmärchen klingt oder nicht, liegt wohl im Auge des Betrachters. Für die leidgeplagten Fans des Vereins aus Brüssel ist die Sache längst klar.

Tobias Rudolf

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