kicker

Robin Gosens: "Die Fans am Heulen, wir am Heulen"

Deutscher Verteidiger von Überraschungsteam Atalanta im Interview

Robin Gosens: "Die Fans am Heulen, wir am Heulen"

Der Traum wurde wahr: Atalanta und Robin Gosens (ganz links und rechts) spielen demnächst Champions League.

Der Traum wurde wahr: Atalanta und Robin Gosens (ganz links und rechts) spielen demnächst Champions League. Getty Images (2)

Das Coppa-Finale hatte Atalanta vor knapp zwei Wochen noch gegen Lazio verloren, am Sonntag qualifizierte sich der kleine Klub aus der Lombardei durch ein 3:1 gegen Sassuolo tatsächlich erstmals für die Champions League, landete vor Inter und vor Milan. Robin Gosens bestätigt am Montagmittag, dass er erst am Montagvormittag im Bett lag.

Herr Gosens, Sie haben sich mal als "ganz normalen Bauern" bezeichnet. Ein ganz normaler Bauer, der in der kommenden Saison Champions League spielt. Ist das schon bei Ihnen angekommen?

Noch überhaupt gar nicht. Ich kann das noch nicht fassen, das ist so surreal. Wenn man sieht, von wo ich komme, ist das schon eine ziemlich außergewöhnliche Geschichte. Da werde ich noch ein paar Tage brauchen, um das zu verarbeiten.

Präsident Antonio Percassi, einst selbst Atalanta-Verteidiger, rührte es nach dem 3:1 gegen Sassuolo auf dem Platz sogar zu Tränen.

Einen Kader und ein Budget, die maximal zum Mittelmaß zählen - das berührt dann auch den Präsidenten. Es war ein magischer Moment.

Wie hat Atalanta, der Klub aus der 120.000-Seelen-Stadt im Osten Mailands, mit dem siebtniedrigsten Etat der Serie A, das geschafft?

Das klingt vielleicht banal, aber wir waren das ganze Jahr eine geschlossene Mannschaft, eine Familie. Dazu kommt eine Spielphilosophie, die in der Serie A nicht viele auf dem Schirm hatten, dadurch haben wir so viele Tore geschossen.

Ihr Team, nach acht Spieltagen noch 17., stellt die beste Offensive der Liga, auch Sie haben als Linksverteidiger immerhin drei Tore und zwei Assists dazu beigetragen. Ist das gerade in Zeiten, in denen sich Underdogs oftmals vor den großen Teams "verstecken", ein Signal?

Auf jeden Fall! Wenn du eine fundierte Spielidee hast und auch mal bereit bist, was zu riskieren, nicht zu sagen "Boah, das ist ein großer Gegner, lasst uns lieber hinten reinstellen" - dann kannst du ordentlich was reißen. Der Trainer hat uns das die ganze Saison eingetrichtert: "Jungs, wenn ihr das durchzieht, was ihr im Training abruft, brauchen wir uns vor überhaupt keinem zu verstecken."

Beim entscheidenden Sieg am Sonntag lobte der Kommentator und sagte, Atalanta spiele "richtig Fußball". Trainer Gian Piero Gasperini (61) selbst meint: "Das Wichtigste ist, gut zu spielen", auch wenn er gerne gewinne. Warum denkt Gasperini so unitalienisch?

Gian Piero Gasperini

Der unitalienische Italiener: Gian Piero Gasperini. imago images

Ich wollt's gerade sagen: Das ist schon der krasse Gegensatz zum eingeschweißten Catenaccio, der in Italien eigentlich immer an erster Stelle steht. Klar ist es wichtig, möglichst wenig Gegentore zu bekommen, wir haben ebenso viel im defensiven Bereich gearbeitet. Aber für uns war es immer wichtig, attraktiven Fußball zu spielen.

Ihre Fans nennen den Verein "La Dea", die Göttin, reisen selbst zu Trainingslager-Testspielen in Scharen an und leben nach dem Motto "Ci stanno sul cazzo tutti" - "Wir hassen jeden". Das klingt dramatisch, andererseits organisiert die "Curva Nord" auch Aktionen für Obdachlose und "La Festa della Dea" - das Fest der Göttin, um die Menschen der Stadt zusammenzubringen. Was haben sie für einen Anteil an der Erfolgsgeschichte?

Sie haben einen Riesenanteil. Ich habe noch nicht in Deutschland gespielt, aber was die Fans hier für den Verein tun; was der Verein für die Stadt bedeutet, das ist sehr, sehr außergewöhnlich. Nach einem Sieg am Wochenende wirst du auf der Straße umarmt und auf den Schultern getragen; nach einer Niederlage getröstet und in den Arm genommen.

Wie realistisch erscheint Ihnen die Möglichkeit, diese Saison zu wiederholen? Oder fürchten Sie einen großen Ausverkauf im Sommer?

Die Gefahr besteht immer, wie man ja auch gerade bei Ajax sieht. Das ist, wenn man so will, ein bisschen das Manko für kleinere Vereine. Aber wir spielen nächstes Jahr Champions League: Ein besseres Argument hat man jetzt auch irgendwie nicht. Wir sind als Mannschaft so sehr zusammen gereift, dass es schon möglich ist, die gleichen Leistungen abzurufen. Nochmal Dritter zu werden, erwartet, glaube ich, niemand von uns.

Ich werde nie richtig realisieren, was ich hier gerade für einen Traum lebe.

Gosens über Duelle mit Cristiano Ronaldo

Spielt Robin Gosens denn nächstes Jahr Champions League mit Atalanta?

Das ist eine sehr gute Frage! (lacht) Ich habe nie einen Hehl draus gemacht, dass die Bundesliga mein Traum ist. Es gab bisher nur loses Interesse von anderen Vereinen, aber Stand jetzt habe ich mit dem Champions-League-Einzug nicht unbedingt die Absicht, zu gehen.

Dann spielt Robin Gosens also, Stand jetzt, Champions League mit Atalanta. Dabei wollte er doch eigentlich Polizist werden...

Eigentlich ja.

Als 18-Jähriger waren Sie noch in der Niederrhein-Liga beim VfL Rhede aktiv, wohnten bei Ihren Eltern in Emmerich und bereiteten sich aufs Berufsleben vor. Wie änderte sich das?

Mit einem Niederrhein-Ligaspiel in Kleve, bei dem ein Scout von Vitesse Arnheim zugesehen hat und nach der Partie zu mir sagte: "Ich war zwar nicht wegen dir hier, aber ich würde dich trotzdem gerne zum Probetraining einladen."

Apropos Probetraining: Das hatten Sie ja vor diesem Spiel in Kleve schon einmal versucht. Aber bei Borussia Dortmund lief es nicht ganz so gut.

Das kann man so festhalten. (lacht) Ich habe es gerne gemacht, weil es eine geile Erfahrung war und ich mich natürlich auch beweisen wollte. Aber man muss natürlich sagen, dass ich überhaupt nicht dazu imstande war, mich mit diesen "Akademiespielern" in Dortmund zu messen.

Also versuchten Sie es in den Niederlanden und gingen in die U 19 von Vitesse. Klingt nach einem großen Schritt, es sind tatsächlich aber nicht mal 40 Kilometer Entfernung von der Heimatstadt Emmerich. Hat es das etwas lockerer gemacht?

Robin Gosens gegen Hakim Ziyech

Im September 2016 gegen Hakim Ziyech und Ajax: Gosens bei Heracles Almelo. imago images

Als ich den Schritt gemacht habe, war es schon so was wie die letzte und einmalige Chance, Profi zu werden und meinen Traum zu verwirklichen. Also habe ich mir gedacht: "Okay, ich mache es jetzt und dann sehen wir, was dabei herauskommt." Dann lief es ja ganz gut.

In Arnheim folgte der schnelle Aufstieg von der U 19 zur U 23, bis Sie Coach Peter Bosz mit ins Trainingslager der Profis nach Abu Dhabi nahm und vom Mittelfeldspieler zum Außenverteidiger umschulte. Ist der heutige Leverkusen-Trainer also auch wegen dieses Feinschliffs der Grund für Ihren Durchbruch?

Das würde ich wohl so unterschreiben. Ich habe mich selber nie als Außenverteidiger gesehen, aber er meinte, ich würde alles mitbringen, um ein moderner Außenverteidiger zu sein. Natürlich kann keiner sagen, was für eine Karriere ich als Mittelfeldspieler gemacht hätte, aber es war schon so etwas wie der Startschuss. Ich habe als Linksverteidiger auch in der Zukunft noch große Chancen.

Dann wäre doch alles gegeben für ein Wiedersehen in der Champions-League-Gruppenphase.

Das wäre geil!

Der Durchbruch als Profi gelang Ihnen jedoch nach einer Leihe beim FC Dordrecht (2. Liga, d. Red.) und 2015 bei Heracles Almelo. Zwei Jahre später der Wechsel in die Serie A zu Atalanta. Also dann doch der ganz normale Karriereverlauf, oder?

Von Heracles in die Serie A ist schon nicht so ein ganz normaler Schritt. In dem Jahr, als ich nach Bergamo gewechselt bin, waren die Jungs davor schon Vierter geworden und hatten sich dadurch für die Europa League qualifiziert. Heracles ist nur ein kleiner Mittelfeldverein in der Eredivisie, daher war das schon ein enormer Schritt, auch weil es wieder ins Ausland ging, weit weg von der Familie und der Freundin.

Aber es hat sich gelohnt.

Ich würde jede Entscheidung, die ich bislang getroffen habe, so noch einmal fällen. Wenn man das sagen kann, hat man vieles richtig gemacht.

Also anstatt Polizei und Schichtarbeit Profi-Fußball gegen Cristiano Ronaldo. Das klingt...

Robin Gosens in Genua

Im März 2019 in Genua: Gosens bejubelt sein drittes Saisontor. imago images

Oh mein Gott, das klingt absurd und surreal. Alles auf einmal. Das wird sich auch nicht ändern, ganz ehrlich. Ich werde nie richtig realisieren, was ich hier gerade für einen Traum lebe. Es ist unfassbar, wirklich unfassbar.

Hat es Spaß gemacht, CR7 aus der Coppa Italia zu schmeißen? (Atalanta gewann deutlich mit 3:0, d. Red.)

Das war ein herrliches Gefühl. Ihm auf dem Platz gegenüberzustehen, ist die eine Sache. Wenn man sein eigenes Kindheitsidol dann noch aus dem Pokal werfen kann… Das war die Kirsche auf der Torte.

Was war Ihr persönliches Highlight in den zwei Jahren bei Bergamo?

Mein Treffer in der Europa League, auswärts bei Everton im Goodison Park (Gosens erzielte das 3:1, Atalanta gewann am Ende mit 5:1 und qualifizierte sich als Gruppensieger vor Lyon und Everton für die Zwischenrunde, d. Red.). Überhaupt Europa League zu spielen, dann gegen ein Premier-League-Team und ich schieß' auch noch ein relativ geiles Tor. Das waren Emotionen, die kann ich nicht in Worte fassen.

Dann in dieser Saison das ganze Erlebnis mit dem Pokalfinale, auch wenn wir unglücklich verloren haben. So was mitzumachen, die Audienz beim Papst, der Vatikan - schon cool. Der Höhepunkt war natürlich gestern die magische Nacht und der Einzug in die Champions League. Die Fans am Heulen, wir alle am Heulen, alle außer Rand und Band. Da hat man zumindest schon mal erahnen können, was wir erreicht haben. Noch ist es nicht ganz in den Gehirnzellen angekommen.

Wenn ein Bundesligist anruft, bin ich leider nicht in der Lage, ihn wegzudrücken.

Gosens kann sich Ablenkung im Urlaub durchaus vorstellen

Ein modernes Fußball-Märchen also?

Mir fällt spontan die Meisterschaft von Leicester City 2016 ein. Wir sind zwar nicht Meister geworden, sind aber auch der kleine Außenseiter gewesen, der sich gegen die Großmächte wie Inter Mailand, AC Mailand, AS Rom und so weiter durchgesetzt hat; der die meisten Tore der Liga vor Juventus, vor Cristiano Ronaldo und Paulo Dybala geschossen hat; der als Dritter in die Königsklasse marschiert ist. Ich kann mir vorstellen, dass es von den Emotionen mit Leicester zu vergleichen ist.

Dann können Sie den Urlaub erst mal genießen. Das Telefon darf aber trotzdem klingeln, oder?

Wenn ein Bundesligist anruft, bin ich leider nicht in der Lage, ihn wegzudrücken. Dafür ist es ein zu großer Traum von mir. Es muss aber schon die richtige Offerte dabei sein, um die Champions League "sausen zu lassen". Ich habe jetzt natürlich größere Ambitionen.

Dann dürfen sich Nico Schulz und Marcel Halstenberg auf der linken Defensivseite in der Nationalmannschaft in Acht nehmen?

Ich werde auf jeden Fall alles dafür tun. Wenn ich so weitermache, kommt vielleicht mal ein Anruf. Dann ist Endstufe. (lacht)

Interview: Mario Krischel