WM

Was haben wir von der WM?

Unterwegs in Russland

Was haben wir von der WM?

Erdbeben, Flucht, Krankheiten - Schicksalschläge prägten und prägen Nara Abrahamyans Leben.

Erdbeben, Flucht, Krankheiten - Schicksalschläge prägten und prägen Nara Abrahamyans Leben. privat

In Russland unterwegs: Jörg Wolfrum

Diese Geschichte beginnt mit einer Katastrophe biblischen Ausmaßes und sie setzt sich für eine Überlebende, damals zwei Jahre alt, bis heute fort: dem Erdbeben 1988 im Kaukasus. Mit geschätzt 25.000 Toten und bis zu einer Millionen Obdachlosen gilt es als eines der schwersten der vergangenen Jahrzehnte. Das Epizentrum lag unweit der nordarmenischen Stadt Spitak, damals Teil der Sowjetunion. Betroffen war auch die Familie Abrahamyan, die von heute auf morgen all ihrer Habe beraubt war, nach Armavir emigrierte, in der Region Krasnodar im südlichen Russland. Zunächst. Überlebt hat das Beben auch ein Kleinkind der Familie Abrahamyan: Nara.

Mittlerweile ist die junge Frau 32 und selbst Mutter von zwei Kindern, dem erst elf Monate alten Kleinkind Artyom und dem knapp sechsjährigen Arsen. Und erneut ist die Zukunft völlig offen, diesmal aber, und hier kreuzen sich die Wege von Reporter und Geschlagener, am Rande der WM. In Sotschi.

Zumindest der ältere der beiden Söhne ist schwerst krank. Mukopolysaccharidose, als Wort ein Ungetüm, die Krankheit ein Ungeheuer. Denn sie führt, laut Wikipedia, zu Störungen des zellulären Stoffwechsels und in schweren Fällen zum Zelltod.

"Mata-mata", einer muss dran glauben, heißt es im Portugiesischen mit Blick auf die K.-o.-Runde der WM, die an diesem Samstag mit den Spielen Frankreich gegen Argentinien in Kasan und Uruguay gegen Portugal in Sotschi beginnt.

"Da hinten blickt die Welt hin"

Und nun ist man wieder bei der durch das Erdbeben vor 30 Jahren vertriebenen Mutter Nara und ihrem kranken Kind. "Da hinten blickt die Welt hin", sagte die zierliche Frau mit den langen, schwarzen Haaren und zeigt Richtung Olympiastadion von Sotschi, das einen Kilometer Luftlinie entfernt liegt. So nah, und doch so fern: hinter Absperrungen. Man kann da nicht einfach hin.

"Fast niemand kommt deshalb hierher", sagt Nara, also ins Restaurant "Mane", das sie mit Ehemann und Schwager betreibt. Dort gibt es Gegrilltes, der Lachs ist ein Gedicht, viel besser als im Stadion, da haben wir ihn auch schon probiert.

"Und bald wird wieder nichts los sein"

Man kann im "Mane" auch Fußball gucken, am TV, das haben dieser Tage auch einige Fans gemacht, aber nur die, die sich abseits der Trampelpfade umgeguckt haben. Es gab in Sotschi das Superspiel Spanien gegen Portugal, 3:3, wir sprachen mit den Portugiesen Alvaro und Estrela, die - aufgrund familiärer Wurzeln - aber lieber im Brasilien-Trikot zu Abend aßen als in dem Ronaldos. Wir trafen Schweden und Belgier und Panamaer - aber immer nur vereinzelt. "Und bald wird wieder nichts los sein", sagt Nara.

WM-Boom? Hätte sie gerne. Was habe sie von dem Stadion da drüben oder den verschiedenen Eis-Arenen? Naja, ganz so ist es wohl nicht. Ein paar Touristen und Reporter verirren sich auch zu ihr. Aber natürlich, der Rubel rollt woanders.

Monat für Monat daher der Kampf, die 100.000 Rubel Miete für das Lokal zu erwirtschaften, das sind umgerechnet rund 1400 Euro. Doch das muss man erstmal reinarbeiten, wenn selbst zu Stoßzeiten wie der WM der Laden alles andere als brummt. Die meisten kommen nur zum Biertrinken, 100 Rubel kostet das Russische aus dem Fass.

Naras Sohn Arsen leidet an Mukopolysaccharidose. privat

Und dann bedarf es ja noch der Medikamente für den sechsjährigen Sohn. Zumal das Ergebnis noch ausstehe, ob auch das Baby an der Erbkrankheit leide. Bei Geburt sind die Kinder noch unauffällig, später kann es zu Verkürzungen des Skeletts oder auch Verformungen kommen. Minderwuchs und vergröberte Gesichtszüge, steht bei Wikipedia.

"Gesundheit für mein Kind"

Man versucht der Mutter Nara mit der Adresse einer Selbsthilfegruppe mit Eltern, Betroffenen und Ärzten zu unterstützen, die man in Deutschland über einen Engel in Gestalt einer Apothekerin bekommt. Schnell ist ein Kontakt hergestellt, sogar in Russland: "Aber ich habe Angst, dass an meinem Kind Experimente vorgenommen werden", sagt die Nara, die gut Englisch spricht.

Sie hat, als Überlebende einer Katastrophe, das Leben als Chance ergriffen: In Armenien ein Diplom als Übersetzerin für Englisch gemacht. Doch in Armenien habe es keine Jobs gegeben, seit sechs Jahren lebt die Familie in Sotschi oder vielmehr in Adler, wo das Olympiastadion steht. Wie so viele Georgier und Armenier - die meisten betreiben Restaurants. Was sie sich wünscht? "Gesundheit für mein Kind", sagt die Überlebende. Völlig unwichtig erscheint plötzlich, wer da gewinnt, Uruguay oder Portugal. Auch ein WM-Titel lässt keinen Menschen länger leben. Medikamente schon.