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Martin: "...dann würde der Radsport durch die Decke gehen"

Interview mit Tony Martin

Martin: "...dann würde der Radsport durch die Decke gehen"

Könnte in diesem Jahr selbst Radsportgeschichte schreiben: Tony Martin.

Könnte in diesem Jahr selbst Radsportgeschichte schreiben: Tony Martin. imago

Tony Martin zählt mit seinen 31 Jahren zu den Routiniers im Profi-Radsport und doch steht er vor einer ganz speziellen Saison. Das beginnt damit, dass es die erste mit seinem neuen Rennstall Katusha Alpecin ist, der eine russische Vergangenheit hat, nun aber mit einer Schweizer Lizenz und deutschen Hauptsponsoren als internationales Projekt angelegt ist. Der Hauptgrund ist freilich die Tour de France, die in Deutschland startet - und zwar in Düsseldorf, noch dazu mit einem Prolog.

kicker: Herr Martin, Anfang Dezember im spanischen Calpe beim ersten Trainingslager Ihres neuen Teams hatten Sie noch Probleme, alle Gesichter einzuordnen. Fühlen Sie sich nun schon heimisch?

Tony Martin: Der erste Eindruck, den ich damals gewonnen hatte, war richtig gut - und der hat sich absolut bestätigt. Die Jungs sind super, und das Team ums Team, seien es nun die Trainer, die Mechaniker oder die Physios, ist sehr professionell. Es macht riesigen Spaß, mit allen zu arbeiten.

kicker: Es hat sich also gelohnt, mit Etixx- Quick Step den in der Breite derzeit wohl besten Rennstall der Welt zu verlassen?

Martin: Es war ja keine Entscheidung gegen mein altes Team, sondern eine bewusst herbei geführte Veränderung für mich persönlich. Im vergangenen Herbst stand ich mit 31 Jahren vor der Frage, ob ich meiner nunmehr doch fortgeschrittenen Karriere noch mal einen frischen Impuls verpassen sollte? Die Lust auf etwas Neues mit Katusha-Alpecin als spannendes Projekt hat letztendlich den Ausschlag gegeben. Wobei ich zugeben muss, dass mir der Schritt nicht leichtfiel, schließlich hatte ich bei Etixx-Quick Step vier wunderschöne Jahre und dabei auch einige echte neue Freunde wie Tom Boonen gewonnen.

kicker: Haben Sie noch Kontakt zu ihm?

Martin: Ja, regelmäßig, eine Freundschaft endet ja nicht mit einem Teamwechsel.

Gelbes Trikot? "Das Ziel liegt doch auf der Hand"

Neues Team, neues Glück? Tony Martin wollte einen anderen Impuls setzen.

Neues Team, neues Glück? Tony Martin wollte einen anderen Impuls setzen. picture alliance

kicker: Bei Ihrem alten Team gab und gibt es neben Boonen gleich mehrere andere Weltklassefahrer, bei Ihrem neuen Rennstall sind es mit Ihnen, Alexander Kristoff und Ilnur Zakarin drei. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?

Martin: Ich denke, dass dies Dinge vereinfacht. Die Frage, wer bei welchem Rennen für wen fährt, birgt Konfliktpotenzial - gerade bei einem hochkarätig besetzten Team mit mehreren potenziellen Siegkandidaten. Eine schlankere Hierarchie minimiert diese Gefahr.

kicker: Sorgt Sie aber nicht für einen höheren Druck, weil die Siegerwartungen auf nur drei Personen lasten?

Martin: Zunächst einmal haben wir schon mehrere Fahrer, die für einen Sieg in Frage kommen. Dass ich mehr im Fokus stehe und damit mehr Verantwortung habe als bei Etixx-Quick Step, will ich gar nicht in Abrede stellen, doch damit habe ich kein Problem - in mich werden ja seit vielen Jahren Erwartungen gesetzt, das ist also nichts Neues für mich. Die größten Erwartungen an mich habe ich übrigens immer selbst.

kicker: Und die tragen Sie auch offensiv nach außen.

Martin: Sie spielen darauf an, dass ich beim Start der Tour de France in Düsseldorf ins Gelbe Trikot fahren will.

kicker: Richtig.

Martin: Dieses Ziel liegt aber doch auf der Hand - es wäre komisch, wenn ich als amtierender Zeitfahr-Weltmeister sagen würde, dass ich beim Prolog in Düsseldorf den zweiten, dritten oder vierten Platz anvisiere. Ich habe auch immer betont, dass es alles andere als ein Selbstläufer wird, in Gelb zu fahren. An diesem Tag muss alles passen, die Konkurrenz ist gewaltig, ich nenne da nur mal Tom Dumoulin.

Die Gefahr, dass ich mich selbst zu sehr unter Druck setze, besteht fraglos. Da muss ich schon aufpassen.

Tony Martin über den großen Druck beim Tour-Start in Düsseldorf

kicker: Die Tour startet zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder in Deutschland, dann ist mit den Sponsoren Alpecin und dem Radhersteller Canyon Ihr Team in gewisser Weise zu Hälfte ein deutsches, Sie selbst sind ohnehin in der Favoritenrolle. Könnte dies nicht doch des Drucks zu viel werden?

Martin: Mit dem von außen habe ich, wie bereits gesagt, gelernt umzugehen. Ich selbst hingegen muss in der Tat aufpassen, dass ich das eigentlich logische Ziel nicht zu verbissen verfolge. Die Gefahr, dass ich mich selbst zu sehr unter Druck setze, besteht fraglos. Da muss ich schon aufpassen.

Nach WM-Gold keine Experimente mehr

Tony Martin

Hat eine "emotionale Bindung" zu seiner Zeitfahrmaschine: Tony Martin. kicker

kicker: War das auch der Grund dafür, dass Ihre vergangene Saison bis zur Weltmeisterschaft im Oktober eine verkorkste war?

Martin: Nein, das hatte vielmehr damit zu tun, dass ich zu viel experimentierte. Ich habe zugunsten einer besseren Aerodynamik meine Sitzposition auf meinem Zeitfahrrad verändert. Ich bot daraufhin zwar dem Wind weniger Angriffsfläche, brachte aber bis zu 50 Watt weniger auf die Pedale. Vor der WM habe ich wieder auf meine alte Position umgestellt - das Ergebnis ist bekannt (Martin holte Gold im Einzel- und Mannschaftszeitfahren, Anm. d. Red.).

kicker: So gesehen hatte Ihr enttäuschendes Abschneiden beim Zeitfahren bei der Tour und bei Olympia auch etwas Gutes.

Martin: Stimmt, wenn ich nur knapp geschlagen worden wäre, hätte ich vielleicht nicht so radikal wieder den bewährten Weg eingeschlagen. Und ich weiß jetzt auch zu 100 Prozent, dass es keinen Sinn macht, ihn zu verlassen.

kicker: Ist es dann nicht ein Risiko, sich auf eine neue Zeitfahrmaschine umzustellen?

Martin: Nein, es ist überhaupt kein Problem gewesen, das Rad auf meine Position einzustellen. Das ging vergleichsweise ruckzuck.

kicker: Apropos Rad. Ist es für Sie lediglich ein Arbeitsgerät?

Martin: Da muss man unterscheiden - das Straßenrad ist für mich ein normaler Gebrauchsgegenstand, zu meiner Zeitfahrmaschine hingegen habe ich schon eine richtig emotionale Bindung. Bei ihr überlege ich immer, was könnte man verbessern, um die Maschine zu optimieren und noch ein paar Sekunden herauszuholen. Die Möglichkeit, nun mit einem innovativen deutschen Hersteller an der Maschine tüfteln und bei der weiteren Entwicklung mitwirken zu können, ist auch mit ein Grund für meinen Wechsel gewesen.

kicker: Fühlen Sie sich auf Ihrer neuen Maschine schon Zuhause?

Martin: Ja, das hat nicht lange gedauert. Es gibt manche Räder, die zwar sehr schnell ausschauen, es aber nicht sind - auf das Canyon trifft dies nicht zu.

kicker: Neben der Tour de France haben Sie ein gutes Abschneiden bei den demnächst anstehenden Frühjahrsklassikern als Ziel genannt - welche haben Sie da speziell im Sinn?

Martin: Vorwiegend diejenigen, bei denen es über Kopfsteinpflaster-Passagen geht, also die Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix. Bei meinem alten, in Belgien beheimateten Team standen die Klassiker traditionsgemäß extrem hoch im Kurs. So gesehen hätte ich mir keine besseren Lehrjahre in puncto Eintagesrennen vorstellen können. Nun fühle ich mich bereit dafür, in diesem Frühjahr den nächsten Schritt zu machen und bei dem einen oder andern Klassiker vorne zu landen.

Würde es jetzt noch einen Deutschen geben, der ernsthaft um den Tour-Sieg mitfahren könnte, würde der Radsport hier durch die Decke gehen.

Tony Martin glaubt an einen neuerlichen Boom des Radsports

kicker: Wieso Lehrjahre? Sie haben doch 2015 bei der Tour die über sieben Kopfsteinpflaster-Passagen gehende 4. Etappe von Seraing nach Cambrai gewonnen und sind damit ins Gelbe Trikot gefahren.

Martin: Selbst wenn eine Tour-Etappe und einen Frühjahrsklassiker eine ähnliche Streckenführung haben, kann man das überhaupt nicht vergleichen. Bei so einer Tour-Etappe haben viele Klassiker-Spezialisten die Aufgabe, ihre Kapitäne gut über die Pavé-Passagen zu bringen. Beim Klassiker selbst fahren viel mehr Fahrer auf eigene Rechnung, hauen alles rein, dementsprechend aggressiv geht es zu. Und auch taktisch ist der Klassiker deswegen weitaus komplexer. Du musst genau wissen, wann du und dein Team zum Beispiel eine Lücke zufahren müssen oder wann man ganz vorne sein muss. Dazu braucht man neben einer exzellenten Streckenkenntnis auch sehr gutes Gespür dafür, wie sich das Rennen entwickelt. Für all dies ist Erfahrung das A und O.

kicker: Der Höhepunkt Ihrer diesjährigen Saison wird aber die Tour sein.

Martin: Klar, wenn die Tour in Deutschland startet, wird dies schon ein sehr spezieller Moment sein - vor allem für André Greipel, Marcel Kittel, John Degenkolb und mich. Es ist ein sehr schönes Gefühl zu wissen, dass unser jahrelanger Kampf für den hierzulande völlig am Boden liegenden Radsport nicht vergeblich war.

kicker: Ist der Radsport in Deutschland wieder über dem Berg?

Martin: Er ist auf einem guten Weg. Ich glaube, dass 90 Prozent ihn nicht mehr automatisch mit Doping gleichsetzen. Dass die Tour zum Beispiel wieder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wird, dass sich deutsche Firmen wieder als Sponsoren verdingen oder dass es im nächsten Jahr wieder eine Deutschland-Tour gibt, sind ermutigende, schöne Anzeichen für eine gute Zukunft. Würde es jetzt noch einen Deutschen geben, der ernsthaft um den Tour-Sieg mitfahren könnte, würde der Radsport hier durch die Decke gehen.

Fünfter WM-Titel? "Das lässt mich nicht kalt"

Tony Martin

Gibt sich selbst noch ein paar Jahre, um Geschichte zu schreiben: Tony Martin. picture alliance

kicker: Sehen Sie einen möglichen Kandidaten, einen Emanuel Buchtmann zum Beispiel?

Martin: Derzeit sehe ich keinen - und selbst wenn ich einen sehen würde, würde ich ihn nicht benennen, um ihm nicht unnötigen Druck aufzubürden. In der jüngsten Vergangenheit gibt es etliche Beispiele, denen dies gar nicht gutgetan hatte.

kicker: Sie selbst könnten in diesem Jahr Radsportgeschichte schreiben, wenn Sie bei der WM in Bergen den fünften Zeitfahrtitel holen - damit wären Sie vor dem zurückgetretenen Fabian Cancellara und alleiniger Rekordhalter. Der Haken: Die Strecke mit dem über drei Kilometer langen und im Schnitt 9 Prozent steilen Berg ist etwas für die Bergflöhe unter den Zeitfahrern.

Martin: Stimmt, der Kurs ist mir gewiss nicht auf den Leib geschneidert. Auf dem Papier habe ich keine Siegchance, doch der Olympiakurs ist auch nicht ideal für Fabian Cancellara gewesen - und er hat dennoch gewonnen. Aber das liegt jetzt erst mal in weiter Ferne.

kicker: Interessiert Sie dieser Rekord überhaupt?

Martin: Um ihn dreht sich jetzt gewiss nicht mein Leben, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass er mich kalt lässt. Aber ich möchte ja noch ein paar Jahre fahren - die eine oder andere Gelegenheit diesen Rekord aufzustellen, dürfte sich also hoffentlich noch ergeben.

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