Rad

Grande Finale

Transalp-Tagebuch eines kicker-Testpiloten

Grande Finale

Christian Biechele (li.) blickt auf unvergessliche Momente auf der Transalp zurück.

Christian Biechele (li.) blickt auf unvergessliche Momente auf der Transalp zurück. Christian Biechele

In sieben Etappen geht es von Sonthofen nach Arco - über insgesamt 886 Kilometer, 19.000 Höhenmeter und 21 Alpenpässe. Gefahren wird in Zweierteams, das bedeutet: Die Zeitwertung bleibt immer erst dann stehen, wenn beide im Ziel sind. Schlecht für den Partner des kicker-Testfahrers. Der heißt Sebastian Hüsges, ist 20 Zentimeter größer, was ungefähr seinem Mehr an Leistungsvermögen entspricht. Einerlei, während es bei etlichen der rund 550 teilnehmenden Teams um Zeiten und Platzierungen geht, kennt der kicker-Mann nur ein Ziel: Durchkommen bei der größten sportlichen Herausforderungen seines Radler-Lebens. Wie und ob ihm dies gelingt, darüber berichtet sein Tagebuch.

7. Etappe: Trento – Arco, 91 Kilometer 2200 Höhenmeter

Eine Rechtskurve, eine allerletzte, hinein in die baumumsäumte Schlussgerade, aufrichten, jeden Pedaltritt genießen bis zum 200 Meter entfernt liegenden Zielbogen – und dann nur noch eines: grande emotione auf der malerischen Piazza in Arco. Was vor einer Woche im allgäuischen Sonthofen begann, endet sieben Tage später in unmittelbarer Nähe des Gardasees.

Eine Woche, ein Rhythmus: 6.30 Uhr aufstehen, Taschen packen, Frühstücken, ab zum Start, 9 Uhr Abfahrt, Radfahren, ankommen, durchschnaufen, regenerieren, ab in die Unterkunft, essen, schlafen, fertig. Und da soll noch einmal einer sagen, das Leben sei kompliziert. Wie bitte, klingt eintönig, langweilig? Von wegen, die Woche ist so vollgepackt mit unvergesslichen Momenten gewesen, dass man nicht weiß, wo man anfangen, wo man aufhören soll. Vielleicht mit dem Start der 2. Etappe? In Imst in der Innenstadt standen rund 1.000 klatschende und jubelnde Leute Spalier, die meisten von ihnen Mädchen und Buben – ihre Freude ist übrigens wirklich aus vollem Herzen gekommen, sie hatten an jenem Tag extra schulfrei bekommen. Oder der böse, von Sebastian völlig unverschuldete Sturz bei der 1. Etappe nach 45 Kilometern, der einigermaßen glimpflich ausging. Wie wäre es mit den fantastischen Blicken in die Bergwelt, die Frau und Mann sich auf den Weg hinauf zu den 21 Pässe im Schweiße ihres Angesichtes zu erarbeiten hatten. Oder das Wetter. Ein einziger sonniger Traum, dem einen oder anderen zwar zu heiß, aber wer wie Sebastian und ich der Fraktion "lieber erstickt als erfroren" angehört, verlor kein Wort der Klage darüber. Man soll es bekanntlich nicht beschreien, in diesem Fall Kälte und Regen.

Nicht zu vergessen das verbindende, tolle Miteinander: In unserem 2-er Team wie mit den anderen Alpecin-Allstars, aber auch mit den allermeisten Mitstreitern – und über die wenigen, die verbissen und rücksichtslos ihr Ding durchzogen, um an Ende des Tages von Platz 187 auf 186 hochzurücken, galt es locker hinwegzusehen. Die Leute, bei denen der eine oder andere Kopfball eindeutig zu viel war, sind in jedem Winkel der Erde zu finden.

Egal, was zählt, sind die coolen, die witzigen wie auch die mitunter skurrilen Mädels und Jungs, die man im Laufe der Woche kennengelernt hat. Wie Pit, der Südafrikaner, der sich selbst als "crazy mountainbiker and downhiller" und die Abfahrten mit breitem Grinsen als "great" bezeichnete. Merkte man: Mit Tempo 80 jagte er geradewegs auf eine Kurve zu, dreht sich kurz um zu mir und schreit "stay the line". Nett gemeinte Einladung, die ich aber ausschlagen musste. Oder Pavel, der Pole, der im Lauf der Woche zu unserem Coach mutierte und uns auch über das philosophische Wesen des Radfahrens an sich belehrte: "Müsst ihr wissen, Radsport ist wie das Leben, es geht nicht fair zu, du musst schlau, clever sein." Mit jenen Worten leitete er die alltägliche Standpauke für uns ein. "Ihr habt wieder geschlafen am Beginn, und dann seid ihr wieder zu oft im Wind gefahren, ihr müsst die anderen arbeiten lassen", so Pavels täglicher Kommentar. Dazu muss man wissen, dass der Start in vier Blöcken erfolgte. Wir standen in Block B, stellten uns immer hinten hin und rollten während der neutralen Startphase an jener Position locker mit. Zur Erläuterung: In der neutralen Phase bestimmen Motorräder vorne das Tempo, erst wenn sie wegziehen, beginnt das Rennen. Pavel verfuhr ein wenig anders als wir. Er hatte aus dem C-Block zu starten, machte dies wie wir auch immer von ganz hinten. Lust, eine halbe Stunde früher zu kommen, um sich ganz vorne in der Startaufstellung zu positionieren, hatte er nämlich auch keine. In der neutralisierten Phase indes verhielt er sich sehr proaktiv, schlängelte sich bis an die Spitze vor. "Neutrale Zone gehört zum Rennen", so seine Sicht der Dinge. Sein Partner Marek übrigens verhielt sich wie wir, was wiederum Pavel zur Weißglut trieb. Selbstredend hielt Pavel an seiner Methode fest, und so dauerte es meist nur wenige Minuten, ehe er nach dem echten Rennbeginn an uns im Windschatten von schnellen Mädels und Jungs hängend vorbeirauschte. Der Haken: Sobald es selbst nur leicht bergauf geht, wird es schwierig, das Hinterrad des Vordermanns zu halten, wenn dieser stärker ist als man selbst. Und so dauerte es meist nicht lange, ehe sich Pavel in unserem Windschatten wiederfand – ins Ziel ist er in der Regel zwischen 20 und 40 Minuten später als wir angekommen.

Und da sind nur einige Beispiel aus dem prall gefüllten Sack an Erlebnissen. Deswegen mein Rat: Wer gerne Rad fährt und einigermaßen trainiert, soll sich das mal ernsthaft überlegen mit der Transalp. Was haben Sebastian und ich zuvor gezweifelt, ob wir das überhaupt durchhalten. Schließlich sind wir beide zuvor noch nie sieben Tage am Stück ernsthaft in die Pedale getreten und sind als Späteinsteiger in diese Sportart meilenweit davon entfernt, Cracks zu sein. Aus letzterer Gattung sind dort selbstredend genügend am Start, aber eben auch genügend andere. Wie wir, die das Ganze zwar mit einer Spur Ehrgeiz, aber eben zunächst nicht als Wettkampf angingen – wäre uns über alle Tage hinweg auch gar nicht möglich gewesen. Erst an den letzten beiden Etappen schalteten wir auf Rennmodus und gingen an unser Limit. Unterm Strich hat das gereicht, um im Gesamtklassement auf Rang 212 zu landen. Der Beweis dafür, dass auch absolute Normalos die Transalp bewältigen können.

Will man Spaß haben, ist es aber wichtig, dass man mit einem Partner fährt, der ungefähr das gleiche Leistungsniveau und auch die gleichen Ambitionen hat. Wenn der eine, bildlich gesehen, mit dem Messer zwischen den Zähnen fährt und um jeden Platz kämpft, und der andere es eher gemütlich angehen lässt, ist dies der Stoff, aus dem die Transalp zum Alptraum werden kann.

Wie es auch gehen kann, zeigten Linda und Claudia. Die beiden aus der Alpecin-Allstars-Gilde rollten immer mit etlichen Stunden später als die meisten über die Ziellinie – dies aber völlig entspannt und mitunter so, als kehrten sie von einer lockeren Radrunde zurück. Wir haben den Verdacht, dass die beiden sich am letzten Pass jeweils eine Runde Liegestuhl und Cappuccino gönnten.

Halt, und noch ein allerletztes: Die Brigitte-, low-carb oder was-weiß-ich-Diät können Sie allesamt in die Tonne treten. Transalp heißt das Beste auf diesem Gebiet: Sie können essen und essen, auch die so genannten guten Futterverwerter, und nehmen noch ab. Garantiert!

6. Etappe Kaltern – Arco, 126 Kilometer, 2200 Höhenmeter

Bei der Transalp überall zu sehen: Stramme Waden.

Bei der Transalp überall zu sehen: Stramme Waden. Christian Biechele

Die Frage, Sieg oder Niederlage, soll sich zwischen den Ohren entscheiden. Oder, um es allgemeiner auszudrücken: die Psyche sitzt im Sport garantiert nicht auf der Reservebank, sondern steht als Spielführer auf dem Feld. Bei der Transalp ist an ihrem sechsten Tag vieles Kopfsache, auf rund 80 Prozent lässt sich das beziffern - und der Rest ist mental.

Man nehme den höchst unangenehmen Anstieg auf den Passo Redebus. Es ist sengende Hitze, der Asphalt flimmert und du biegst in eine 13 Prozent steile Gerade, deren Ende, Frau oder Mann nur erahnen können. Nun kannst du Meter für Meter an die Hitze denken, an die schweren Beine, daran, dass dein Motor auf Reserve läuft, oder schlicht, dass du keinen Bock mehr hast. Alles falsch, wie das Taschenbuch für Hobby-Psychologen verrät. Ablenkung ist angesagt, am besten den steilen Berg, das wild pochende Herz und die schmerzenden Beine komplett ausblenden, indem du dich in deinem Oberstübchen völlig anderen Dingen hingibst. Joa, mach' ich: Die Waden um mich herum sind es, um die sich auf den Weg hinauf all' meine Sinne drehen. Erst studieren, dann bewerten, heißt dabei die Losung.

Also, es gibt dünne sehnige, dicke muskelbepackte, konturlose (ja, auch das existiert hier), langgezogene, breite kurze, braungebrannte, tiefbraungebrannte, angesichts des vielen, vielen Sonnenscheins kurioserweise auch käsig weiße (Hallo, liebe Engländer), völlig glatte, behaarte (sind hier so selten, dass sie unter Artenschutz gestellt werden müssen), tätowierte, und so weiter und so weiter. Nun zur Bewertung, die auf einer Skala von eins, das Minimum, bis zehn, das Maximum, abläuft - alles total subjektiv und anonym versteht sich. Da vorne zum Beispiel, eine glatte Zehn, braun, dezent muskulös, schöne Proportionen. Perfekt eben. Erwähnen sollte ich, dass ich nicht allzu kritisch bin. Jede Wade, die hier zu sehen ist, verdient Respekt, deswegen gibt es von Haus aus nichts Schlechteres als eine Sieben.

Wobei, Moment, was überholt mich denn da? Eine in einem bis zum Knie reichenden Kompressionsstrumpf eingeschnürte Wade, hallo, das geht ja gar nicht. Nein, nicht das Überholen - das Outfit. Schon mal was von der Stil-Fibel für Rennradfahrer/innen gehört? Ein Kniestrumpf, und das in Italien, der Heimat des Schönen und der Ästhetik. Das ist nicht mal eine Eins, das ist eine Null! Wie, dieser Strumpf soll müde Beine munter und dessen Besitzer schneller machen? Na und, nie im Leben würde ich solche Dinger tragen! Wie bitte, 15 Minuten?! Gibt es diese Dinger an den Ständen im Tour-Village zu kaufen?

Aber da, halt, rechts vor mir eine Zehn, und was für eine, diese Startnummer 314 - bisher die klare Tagesbestwertung. Allerdings in einer anderen Kategorie. In welcher? Kein Kommentar, fragen Sie doch Sebastian.

Doch zurück zum Kopf. Den tricksen wir heute aber so was von sauber aus. Er, also der Kopf, sagt nach dem Aufstehen, aus, vorbei, Druck aufs Pedal geben, ist nicht mehr. Wir, das große Endziel vor Augen, sagen: Interessiert uns nicht, Angriff ist die beste Verteidigung, also "all in". Zum ersten Mal bei der Transalp wollen wir eine Etappe nicht zurückhaltend fahren, sondern so, als wäre sie ein Eintagesrennen. Bedeutet: Und wenn die Beine auch schmerzen, vom Start bis zum Ziel immer ran ans Limit, bis der Einbruch kommt. Tut er aber zu unserer großen Überraschung nicht, wir sind so flott und kämpferisch wie noch nie in diesen Tagen unterwegs und erzielen unsere mit Abstand beste Platzierung bei einer Etappe. Und morgen? Kein großes Gequatsche mit dem Kopf, lieber "all in" und Waden bewerten!

5. Etappe Aprica – Kaltern 136 Kilometer, 2400 Höhenmeter

Obligatorischer Besuch an der Ergebnistafel im "Tour-Village" kicker

Zahlen, Daten? Nichts wie her damit, je mehr und je detaillierter, umso besser. Siehe die zwei Anrufe aus Deutschland, die ich heute gut eine halbe Stunde zufällig nach der Zieldurchfahrt der Etappe bekomme. Die Heimat meldet sich, genauer zwei Freunde, mit denen ich hin und wieder eine Radrunde drehe. Der Gesprächsinhalt? W-Fragen! "Und, wie? (Einstieg) Welchen Schnitt, welche Herzfrequenz, wie viele Höhenmeter, wie lange - und wo stehst du mit deinem Partner überhaupt?"

Gut, wer Zahlen will, soll sie auch bekommen. Zunächst mal, auch auf die Gefahr der einen oder anderen Wiederholung hin, nur allgemeine, und dies im Stakkato: 13. Tour Transalp für Rennräder, 886 Kilometer lang, 19.152 Höhenmeter, 7 Etappen, 550 Teams, 44 Nationen und rund 125 "Tour-Angestellte" als ständige Begleiter – wegen der riesigen Logistik, die all diese Zahlen ja bereits vermuten lassen. Jeden Tag gilt es den großen Ziel- und Startbereich des "Tour-Dorfs" auf- und abzubauen, auf der Strecke auf Gefahrenstellen hinzuweisen, Verpflegungsstationen einzurichten, den Gepäcktransport zu bewerkstelligen, und, und, und.

Kurzum, eine perfekt organisierte, große mobile Sportveranstaltung, bei der es der Natur eines Wettkampfes gemäß Führende gibt, knapp Geschlagene, wenig, mittel und stark Abgehängte. Und zwar in den diversesten Kategorien. Eine davon hat gleich vor der ersten Etappe unser Interesse erregt: Einer der Hauptsponsoren kürt jeden Tag das beste Duo einer Nation, die wiederum früh per Losentscheid festgelegt wird. Klasse, ich also zum Rennbüro, wollte Sebastian und mich ummelden: Nix mehr Deutschland, wir fahren für Turkmenistan, oder wie wäre es mit den Malediven, von dort dürfte doch auch kein Paar am Start stehen? Die Chance, bei der abendlichen Pasta-Party inklusive Tagessiegerkürung einmal auf dem Podest zu stehen, würde dann immerhin bei 1 zu 45 stehen. Dummerweise wurde diese geniale Idee glattweg abgelehnt. Und so ist die Null in Sachen Podest für uns zementiert worden. Dennoch pilgern wir, wie wirklich jeder Teilnehmer/in, jeden Tag an die große Wand im "Tour-Village", an der die Tagesergebnisse und der Gesamtstand ausgehängt sind.

Und heute, wie? Sehr positiv fürs Team der Alpecin-Allstars: Anne und Sandy haben ihren vierten Rang bei den Damen gefestigt. Grandiose Leistung! Nicht minder grandios, und da bestätigt sich erneut, dass Zahlen doch nicht alles sind, schlagen sich Linda und Claudia. Wie sie hier durchkommen, kann Mann nur den Radhelm ziehen.

Und wir? Nun ja, wie gesagt, Zahlen sagen nicht alles aus. Man nehme die heutige Etappe, die im Vergleich zur gestrigen auf dem Papier viel leichter gewesen ist. Auf dem Asphalt jedoch hat sie mich mehr gefordert. Auf den langen bis leicht abschüssigen Geraden bildeten sich so genannte Züge, bei denen man dabei sein musste, wollte man nicht kilometerlang ohne Windschatten unterwegs sein. In dem, in dem wir einstiegen, ging es chaotisch zu, weil kein gleichmäßiges Tempo und weil auch ständige Positionskämpfe. Das löste erstens Beklemmung aus, siehe Sebastians Sturz bei der ersten Etappe, und kostete zudem unnötig viel, viel Kraft. Oder lag es daran, dass die bisherigen Tage ihren Tribut forderten? Heute hat noch mal mein Kämpferherz über meinen desolaten Zustand obsiegt, so dass wir unseren Platz im Gesamtklassement halten konnten. Wie der lautet? Mist, jetzt muss es doch auf den Tisch: In unserer Kategorie belegen wir den 94. Platz, im Ranking aller Teams stehen wir auf Platz 237 mit einem Rückstand auf die Ersten von acht Stunden und einer Minute. Doch genug der Zahlen – für immer übrigens, was uns betrifft, in diesem Tagebuch. Ab morgen wird es, sorry Sebastian, steil abwärts gehen – es sei denn über Nacht passiert ein Wunder.

Nichts ging mehr, Flaschen leer...

Nichts ging mehr, Flaschen leer... kicker

4. Etappe Livigno – Aprica, 142 Kilometer, 3500 Höhenmeter

Königsetappe, da gibt es eigentlich nur eines zu sagen, und zwar: Habe fertig – und zwar completamente, befinden uns schließlich in Bella Italia. Gutes Stichwort, da kommt einem doch gleich der Giovanni Trapattoni in den Sinn. Nehmen wir den, zugegeben, sehr hypothetischen Fall an, dass er momentan unser Trainer wäre und uns nun nach getaner Fahrt und dem obligatorischen Nudelfassen zur abendlichen Taktikbesprechung bitten würde. Was wären da wohl seine Worte? Richtig: Was erlauben? Flasche leer!

Stimmt, aber, kleiner Einspruch Trainer, es hat heute doch auch den einen oder anderen Lichtblick gegeben. Die Fahrt auf die beiden Passgiganten Gavia und Mortirolo hinauf – das war gemessen an den bisherigen Darbietungen auf dieser Transalp unsere Gala-Vorstellung gewesen. Zum ersten Mal haben wir den Schalter "Wettkampfmodus" entdeckt - und ihn auch gedrückt. Erst ich auf den Passo Gavia hinauf, den ich zum ersten Mal überhaupt unter die Reifen genommen habe und der ab heute zu meinem Lieblingspass gehört. Zumindest die ersten zwei Drittel unterhalb der Baumgrenze. Viele, viele Serpentinen, nicht weniger traumhafte Ausblicke, selten steiler als acht Prozent und immer wieder die eine oder andere flache Passage – genau mein Ding. Voller Enthusiasmus kurbelte und kurbelte und kurbelte ich, was die Beine hergaben.

Am Mortirolo hingegen, diesen hinterhältig steilen Schurken aus Stein, ist Sebastian in seinem Element gewesen. Er, der Liebhaber von hochprozentigen Steigungen (pervers, oder?), flog an allen, die sich zum gleichen Zeitpunkt in diesem Anstieg befanden, förmlich vorbei. Und ich hechelte mit einem Sicherheitsabstand, der mal kleiner, aber meist riesengroß war, am Limit hinterher. Herzlichen Dank auch!

Dazwischen haben wir es freilich eher gemütlich angehen lassen, zweimal sogar kurz angehalten, um eine Foto zu schießen. Zu schön sind sie einfach gewesen, die Ausblicke. Nicht zu vergessen, dass er uns richtig schlecht bekommen wäre, der Versuch, vom ersten bis zum 142-ten Kilometer auf Wettkampfmodus zu stellen. Die zwei kurzen Ausflüge haben schließlich schon gereicht für Flasche leer - und zwar gleich so was von leer.

Oben auf dem Berninapass, im Hintergrund: Piz Palü. kicker

3. Etappe Davos – Livigno 133 Kilometer 3073 Höhenmeter

Als die landschaftlich atemberaubendste Etappe ist die heutige Strecke vom Rennleiter Marc Schneider angekündigt worden. Auch wenn der Vergleich zu den anderen noch aussteht, zu toppen dürfte diese in der Tat nicht sein. Wolkenloser Himmel, saftig grüne Wiesen, tiefblaue Bäche und Seen, schneebedeckte Gipfel, malerische Dörfer – Schweizer Postkartenidylle satt.

In diesem Zusammenhang kommt mir folgende Begebenheit in den Sinn. Vor einigen Jahren hatte ich einen Profi-Fahrer, wen, tut hier nichts zur Sache, vor der Tour de France interviewt und dabei folgende Frage gestellt: Ob ihm die schönen Landschaften bei einer Bergetappe eigentlich einen Kick geben? Er schaute mich an, als ich hätte ich ihn gefragt, ob er mir sein Auto, sein Haus oder bestens einfach gleich alles schenken möchte? Autsch, ging voll daneben. Saudumme Frage eines Wald-und Wiesenradlers eben. Logisch, wer mit brennenden Lunge und einem Puls weit über 170 Schlägen den Berg auf der Jagd nach siegbringenden Sekunden und Minuten hochstürmt, dem ist die Kulisse aber so etwas von wurscht.

Tonnenschwere Beine, dicker Hals und fette Ausblicke

Nur gut, dass ich nichts jage und schon gar nichts hochstürme. Zugegeben, Letzteres würde ich liebend gerne machen, nur da würde nach ein, zwei Kilometern mein Körper in einen plötzlichen und abrupten Generalstreik treten. Allen voran die Beine, die fühlen sich bereits beim Start tonnenschwer an. Meinem Partner Sebastian geht es nicht besser - die Gefahr eines Krampfes fährt den ganzen Tag als blinder Passagier in der Trikottasche bei uns mit. Dementsprechend gemächlich geht es mitunter bei uns voran, was aber nichts daran ändert, dass es mitunter brutal anstrengend ist.

Aber, so sehr die Berge uns Pein bereiten, so sehr spornen sie mitunter an. Das Panorama auf der Fahrt von Pontresina auf den Berninapass hinauf zum Beispiel. Motaratsch-Gletscher, Piz Bernina , Piz Palü – was für fette Ausblicke, pfeif auf die dicken Beine. Und wir können sie lange, wirklich lange genießen. Wenig später jedoch hat es sich mit der Begeisterung für Berge. Der letzte Anstieg auf den Forcola di Livigno nach fast fünfeinhalber-stündiger Fahrt entpuppt sich als weitaus giftiger als erwartet. Berge? Nein danke, ist ein brettelebener Sandstrand nicht viel, viel geiler? Und dann diese Aussicht auf morgen. Königsetappe mit den Radsport-Monumenten Gavia und Mortirola. Zwei Pässe zum Fürchten, kein Wunder also, dass ich einen dicken Hals habe. Aktuell im Wortsinn- und morgen auf die Berge, landschaftlich atemberaubend hin oder her.

Sebastian Hüsges (o.), Chris Biechele (u.)

Auf zur Etappe zwei: Sebastian Hüsges (o.) und Chris Biechele (u.). kicker

Mühsam und mit unrund laufenden Zylindern hat sie heute früh wieder den Motor angeworfen, die Ente. Also ich, siehe erste Etappe. Und doch ist heute etwas anders: Der Unterschied zwischen Dummen und Intelligenten soll, besagt eine Volksweisheit, der sein, dass Erstere immer wieder denselben Fehler begehen, während Letztere immer wieder neue produzieren. Wir wollen heute angesichts einer wirklich happigen Etappe zu letzterer Gruppe gehören, will heißen: von Anbeginn an weniger Gas geben, den Motor clever schonen. Gelingt uns lange Zeit ordentlich bis gut, haben den Fuß bewusst weniger ins Pedal gedrückt, auch wenn vermeintlich mehr drin wäre.

Dummerweise setzen wir das nicht komplett um, hier und da wähnen wir brachliegende Pferdestärke. Ganz kurzfristig gedacht, mag das vielleicht so sein, auf die gesamte Strecke gesehen nicht. Einerlei, unterm Strich sind wir halbdumm - oder halbintelligent für diejenigen, bei denen ein Glas stets halbvoll und nie halbleer ist. Wir kommen zwar nicht gut durch, aber besser als gestern - und wir harmonieren übrigens bislang auch leistungsmäßig prächtig. Ab acht Prozent, damit ist hier wirklich nur die Steigung gemeint, gibt Sebastian die Zuglokomotive, darunter ich.

Damit ist so nicht unbedingt zu rechnen gewesen, denn im vergangenen Jahr, als wir gemeinsam im Jedermann-Team von Alpecin fuhren, besaß Sebastians Motor eindeutig mehr Hubraum. Wird er auch heute noch haben, aber so ein Sturz regelt das Aggregat schon mal ab und so befinden wir uns eben im leistungsmäßigen Gleichklang. Wäre dem nicht so, würde der teaminternen Hausfrieden auch nicht schief hängen.

Harmonie statt Macht und Kraft

Eine Selbstverständlichkeit? Von wegen, so eine Bergtour kann auch locker entzweien, wie man unweigerlich hier und da mitbekommt. Da brüllt der eine den anderen schon mal an, da wird das Anfeuern "Hopp, auf geht's, lass dich nicht hängen!" in einem Ton und mit einer Miene vorgetragen, dass es übersetzt eigentlich heißt: "Latsch endlich ordentlich rein in die Pedale, du lahme Ente!" (Damit bin ausnahmsweise nicht ich gemeint). Bei uns? Gar nix, wir sind zwar nicht mit der Macht und schon gar nicht mit der Kraft, dafür aber mit der Harmonie. Dazu tragen auch viele andere Mitstreiter bei, mit denen wir ins Gespräch kommen. Siehe Marek und Pavel, das polnische Duo, mit dem wir bis auf den Flüela-Pass, den finalen Anstieg, die gesamte Etappe bestritten haben.

Nicht zu vergessen natürlich die Alpecin-Radsportfamilie: Insgesamt sind neben uns fünf weitere Mitglieder der Alpecin-Allstars am Start. Das fängt mit Ralph an, und setzt über die Damenteams Linda/Claudia und Anne/Sandy fort, die selbstredend die coolsten, witzigsten und hübschesten im ganzen Peloton sind. Letztere, die Berchtesgadener "Kletterriesen", haben gar das Podest in Reichweite. Das aber nur am Rande. Hauptsache "good vibrations", das verbessert zwar unsere Leitung nicht, aber ist doch immerhin viel besser als nichts.

1. Etappe von Sonthofen nach Imst: 120 Kilometer, 2400 Höhenmeter

In einer Startaufstellung für ein Rennen stehen Ferraris, Porsches und mittendrin eine Ente - nein, nicht das Tier, der legendäre Kleinwagen aus Frankreich. Absurd, konstruiert? Von wegen, ich bin die Ente, gefühlt zumindest, angesichts der durchtrainierten Körpern, den brutal definierten Waden inklusive, um einen herum. Anschaulicher kann einem nicht demonstriert werden, dass man nicht mit dem Vorgenommenen antritt. Auf die anvisierten 5000 Trainingskilometer für die Transalp fehlen rund 1300, und auch mit der angestrebten Bikinifigur ist es nicht so recht etwas geworden. War übrigens nicht wegen der Eitelkeit, sondern wegen der Physik.

Zuversichtlich vor dem Start: Sebastian Hüsges und kicker-Testpilot Chris Biechele (re.).

Zuversichtlich vor dem Start: Sebastian Hüsges und kicker-Testpilot Chris Biechele (re.). kicker

Jedes Kilo, das den Berg hinaufgeschleppt werden muss, kostet, wie wir seit unserer Schulzeit wissen, zusätzlich Kraft. Und wenn man von Letzterem nicht allzu viel hat ... Wobei lassen wir das, soll ja für uns kein Wettkampf sein, sondern eine sportliche Panoramafahrt. Hat auch Sebastian gesagt, der Stärkere von uns beiden. Nur, Worte sind das eine, Taten das andere - vor allem auf den Geraden legt er solch ein Höllentempo vor, dass ich selbst im Windschatten so meine liebe Not und Mühe habe dranzubleiben. Mehrmals bremse ich ihn aus, am wirklich großen Stopp jedoch bin ich jedoch schuldlos.

Glück im Unglück: Nur Prellungen bei schmerzhaften Aufprall

Auf einer Geraden in einer 20-köpfigen Gruppe kommt es beim Tempo 40 urplötzlich zum Sturz, ich kann um Haaresbreite ausweichen, Sebastian leider nicht - und hatte dennoch Glück im Unglück eines brutal schmerzhaften Aufpralls. Ernsthafte Verletzungen bleiben aus, schmerzhafte Prellungen allerdings nicht. Aber, Sebastian ist das, was man einen harten Hund nennt. Nach 20 Minuten Pause fahren wir erst gemächlich weiter, um dann Kilometer um Kilometer mit dem Tempo anzuziehen.

Ob es am Ende des Tages dann doch nicht zu hoch war, angesichts der Tatsache, dass es sich um die erste von sieben Etappen handelte - und beileibe nicht um die schwerste. So gesehen verursacht es mir schon ein wenig Bauchgrimmen, dass es sich heute Abend so anfühlt wie nach einem Eintagesrennen. Aber, ab morgen wird's eine Panoramafahrt. Muss! Sagen die Beine.

Christian Biechele