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John Degenkolb: "Ein traumhaftes Jahr"

Kolumne des Radsport-Stars

John Degenkolb: "Ein traumhaftes Jahr"

Vaterglück: Für John Degenkolb hätte das Jahr nicht besser starten können.

Vaterglück: Für John Degenkolb hätte das Jahr nicht besser starten können. imago

Kolumne von John Degenkolb

"Traumhaft - dieser Begriff schießt mir durch den Kopf, wenn ich an meine erste Saisonhälfte denke. Mehr noch, 2015 ist bislang mein Jahr schlechthin gewesen. Natürlich wegen meiner Siege bei den so genannten Radsport-Monumenten Mailand-San Remo und Paris-Roubaix, aber in erster Linie wegen der Geburt meines Sohns Leo Robert am 2. Januar, das einschneidendste Ereignis meines Lebens. Besser hätte das Jahr nicht beginnen können. Und fünf Tage später fiel dann auch noch mein 26. Geburtstag mit der offiziellen Team-Präsentation in Berlin zusammen, die wiederum gerade für uns deutsche Fahrer im Team eine ganz spezielle war. Lange hatten wir gehofft und auch dafür gekämpft, dass der Sport, den wir alle so lieben, in unserer Heimat in der Öffentlichkeit wieder eine faire Chance bekommt. So sehr er sein Negativ-Image selbst verschuldet hatte, so sehr hat er sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Wäre dem nicht so, das Bielefelder Unternehmen Alpecin wäre nie als Hauptsponsor eingestiegen. So aber markiert jener 7. Januar einen Wendepunkt im deutschen Radsport, nach fünf Jahren ist er wieder mit einer Mannschaft in der höchsten Liga, der World Tour, vertreten. Uns alle im Team überraschte damals dennoch, wie groß der Medien-Andrang in der Französischen Botschaft in Berlin war - ein Beleg dafür, dass der deutsche Radsport seine Talsohle durchschritten hat.

Vuelta, Giro, Monumente und ein Traum

Mit Schutzblech und ohne Virus durch den Winter

Apropos Beleg: Erst die Geburt meines Sohnes, kurz darauf dieser spezielle Geburtstag – wenn das mal keine Vorzeichen für eine richtig gute Saison sind, dachte ich mir damals in Berlin. Nun muss man wissen, dass ich abergläubisch bin, sehr sogar. Deswegen habe ich auf das Oberrohr meines Rads auch ein Bild vom Fußabdruck meines Sohns aufgeklebt – somit war er als Schutzengel und als Motivator dabei, als ich die zwei größten Triumphe meiner Karriere einfuhr. Möglich waren beide nur, weil alles passte. An den jeweiligen Renntagen, aber auch in den Tagen davor und dazwischen. Mein Training konnte ich wie geplant abspulen, was keine Selbstverständlichkeit ist. Ein großer Feind eines jeden Rennfahrers ist ein Virus, und der lauert gerade zu jener Jahreszeit quasi an jeder Ecke. Mein Freund und Kollege Marcel Kittel kann ein Lied davon singen: Er hat sich einen Infekt eingefangen, was ihm bislang leider einen dicken Strich durch seine Saisonpläne gemacht hat. Davon blieb ich zum Glück komplett verschont, obwohl ich im Winter ungewöhnlich viele Trainingskilometer in meiner Heimat Frankfurt abspulte und nicht wie sonst zu dieser Zeit üblich in wärmeren Gefilden. Als frischgebackener Vater wollte ich möglichst viel Zeit bei meiner Familie verbringen, unser Radhersteller Giant hatte mir extra dafür ein Rad mit Schutzblechen zukommen lassen. Und auch das Sturzpech machte einen großen Bogen um mich, klammert man einmal das Eintagesrennen E3 Prijs aus. Da musste ich zwar unfreiwillig und abrupt aus dem Sattel steigen, kam aber mit Prellungen an Knie und Schulter glimpflich davon.

Was für ein Hammer, mir ist der erste Sieg in einem so genannten Radsport-Monument gelungen!

John Degenkolb
"Angst, das Ding zu verlieren, hatte ich überhaupt nicht": John Degenkolb.

"Angst, das Ding zu verlieren, hatte ich überhaupt nicht": John Degenkolb. Getty Images

Auf einen Nenner gebracht: Meine Vorbereitung auf die Frühjahrsklassiker, meinem ersten großen Saisonziel, verlief absolut nach Wunsch. Und so rollte ich mit einem richtig guten Gefühl an den Start der fast 300 Kilometer langen Fahrt in den Frühling von Mailand nach San Remo. Es soll ja mal vorkommen, dass man ein Rennen gewinnt, auch wenn man nicht die besten Beine hat, aber das ist eher Rarität als Normalfall. Das Wissen, gut in Form zu sein, macht einen auch psychisch stark – und dies wiederum ist eine ganz, ganz wichtige Komponente. Siehe mein Triumph auf der Via Roma in San Remo. Ich bin zwar gut über den Poggio gekommen, den letzten fast vier Kilometer langen Anstieg kurz vorm Ziel, war aber dann nach der Abfahrt in der 29-Mann großen Spitzengruppe relativ weit hinten. Ich musste also rund zwei Kilometer vor dem Ziel meine Nase früher als geplant in den Wind stecken, um Positionen gut zu machen. Ich bin dennoch cool geblieben, weil ich wusste, dass ich blendende Beine hatte. Angst, das Ding zu verlieren, hatte ich überhaupt nicht. Ohne diese Selbstsicherheit ist die Gefahr riesengroß, dass du deinen Schlussspurt einen Tick zu früh anziehst. Ich indes wartete und trat genau im richtigen Moment an. Was für ein Hammer, mir ist der erste Sieg in einem so genannten Radsport-Monument gelungen!

Über jahrhundertealte Wege mit zum Teil kindskopfgroßen Pflastersteinen zu donnern und sich so durchschütteln lassen, dass du noch zwei Tage später keinen Kaffeelöffel ruhig halten kannst, mag absurd anmuten.

John Degenkolb über Paris-Roubaix

Trotz dieses schwer in Worte zu fassenden Glücksgefühls galt es die Spannung hochzuhalten, denn drei Wochen später stand mit Paris-Roubaix der Klassiker an, den ich gewinnen wollte, seit ich als Junge mit dem Radsport begann. Es gibt nicht wenige, die überhaupt nicht nachvollziehen können, wie ich mich so für dieses Rennen begeistern kann. Nüchtern betrachtet ist es mit seinen insgesamt 52,7 Kilometer langen Pflasterstein-Passagen tatsächlich ein Anachronismus. Über jahrhundertealte Wege mit zum Teil kindskopfgroßen Pflastersteinen zu donnern und sich so durchschütteln lassen, dass du noch zwei Tage später keinen Kaffelöffel ruhig halten kannst, mag absurd anmuten. Für mich hingegen verkörpert diese Fahrt durch die sogenannte Hölle des Nordens all das, was den Radsport auszeichnet. Dort brauchst du ein gutes Team und Glück, aber auch Kraft, Mut sowie eine gute Rennübersicht, um den entscheidenden Moment erstens zu erkennen und dann zweitens das Richtige zu machen. Und: Du musst leiden können, Schmerz aushalten. Ich finde es faszinierend, die eigenen körperlichen Grenzen auszuloten und auch über sie hinausgehen zu können.

Mit Routine und Gänsehaut zum Sieg

Was du letztendlich auch noch brauchst, um gewinnen zu können: Routine. Im vergangenen Jahr habe ich Niki Terpstra ziehen lassen, weil ich dachte, dass er das nicht durchhalten würde. Tja, er feierte einen Solo-Sieg, während ich "nur" den Sprint um Rang zwei aus dem Verfolgerfeld heraus für mich entscheiden konnte. Doch Fehler sind dazu da, dass man aus ihnen lernt. In diesem Jahr ergriff ich die Initiative, habe kurz vor dem Ziel erst ein Loch zugefahren und dann selbst das Tempo gemacht. Das Resultat ist bekannt – ich habe mir einen Kindheitstraum erfüllt. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich an die entscheidenden Momente dieses Rennens denke.

Auf den Spuren von Sean Kelly

Einzelkämpfer mit starkem Team: John Degenkolb weiß, wem er seine Erfolge zu verdanken hat.

Einzelkämpfer mit starkem Team: John Degenkolb weiß, wem er seine Erfolge zu verdanken hat. Getty Images

Welch außergewöhnlicher Coup mir da gelungen ist, zeigt der Umstand, dass es in der Radsportgeschichte erst zwei Fahrer vor mir schafften, Mailand-San Remo und Paris-Roubaix in einer Saison zu gewinnen, zuletzt dem Iren Sean Kelly 1982. Was sich dadurch verändert hat? Für mich persönlich nichts, ich bin derselbe John, der ich auch vorher gewesen bin. Die Gefahr abzuheben, fährt alleine schon mein Umfeld auf null herunter. Meine Familie und meine Freunde würden mich aber so etwas von erden, wenn ich irgendwelche Allüren an den Tag legen würde. Wobei ich auch überhaupt nicht der Typ dafür bin. So musste ich erst herzlich lachen und dann energisch widersprechen, als mich nach Paris-Roubaix ein belgischer Journalist als Held bezeichnete. Das ist schon insofern Quatsch, dass gerade dieser Sieg das Resultat einer grandiosen Mannschaftsleistung ist. Und das beziehe ich nicht nur auf meine Mitfahrer, da gehören so viele dazu, die Mechaniker, die Physiotherapeuten, die sportlichen Leiter, und so weiter. Als Einzelkämpfer hast du, egal wie stark du bist, ohnehin keine Chance, Rennen zu gewinnen – und dieses schon dreimal nicht. Deswegen hätte ich die Siegertrophäe, einen riesigen Pflasterstein, auch liebend gerne in 14, 15 Stücke zerschnitten. Da die Veranstalter dies wohl nicht gerne gesehen hätten, blieb das gute Stück heil und ich durfte die gut 14 Kilogramm schwere Trophäe die 124 Stufen hinauf in unsere Frankfurter Wohnung schleppen.

Die Torwand bestätigt die Berufswahl

Freut sich über das Medieninteresse: John Degenkolb im aktuellen Sportstudio.

Freut sich über das Medieninteresse: John Degenkolb im aktuellen Sportstudio. imago

Zwei Sachen haben sich übrigens durch mein erfolgreiches Frühjahr doch geändert. Das Interesse der Medien an mir ist sprunghaft gestiegen. So durfte ich zum Beispiel beim altehrwürdigen ZDF-Sportstudio auf die Torwand schießen – dabei stellte sich heraus, dass einst mein Vater nicht so ganz falsch damit lag, mich von einer Fußball-Laufbahn abzubringen. Im Alter von neun Jahren wollte ich nämlich kurzzeitig unbedingt, Fußballer werden. Doch zurück zu dem besagten Medieninteresse. Generell empfinde ich es als höchst positiv – nicht wegen mir, sondern wegen dem deutschen Radsport. Auch wenn ich aus Zeitgründen, mein Trainingsplan und Rennkalender lassen grüßen, nicht allen Anfragen nachkommen kann, so kann ich doch ein kleines Stück dazu beitragen, dass der Radsport in Deutschland wieder den Stellenwert bekommt, den er verdient. Die Anzeichen dafür sind da und vielversprechend. Umso ärgerlich fand ich es, dass in Frankfurt mit dem Rennen um den Finanzplatz eine der wichtigsten deutschen Radveranstaltung wegen Terrorgefahr abgesagt werden musste. Was ein, zwei Verrückte anrichten können, ist schon unglaublich. Andererseits war dies die absolut richtige Maßnahme, auch wenn ich das Rennen, das praktisch an meinem Wohnzimmer vorbeiführt, nur zu gerne gewonnen hätte, nachdem ich mich vergangenes Jahr mit dem zweiten Platz begnügen musste. Mir taten aber vor allem der Veranstalter, die Helfer und die vielen Jedermänner und -frauen leid, die für dieses Rennen angereist waren und sich sehr darauf gefreut hatten. Ein wirklich bittere Pille, aber ich bin mir sicher, dass dieses Rennen trotzdem eine gute Zukunft haben wird.

Mit der Tour de France habe ich noch eine Rechnung offen.

John Degenkolb

Nun aber zu der zweiten Sache, die sich für mich persönlich geändert hat: Im Feld werde ich nun wesentlich genauer beobachtet, sich einfach mal davonzuschleichen, ist nun erst recht nicht mehr drin. Wer aber denkt, dass ich mit diesen zwei Siegen mein Saisonziel bereits so gut wie erreicht habe und deswegen satt sein könnte, kennt mich ganz und gar nicht. Zugegeben, unmittelbar nach Paris-Roubaix ließ ich es gemächlich angehen, und bei uns in Frankfurt lief häufig der Grill. Und ja, als ich nach diesem Durchschnaufen mein Programm wieder normal abspulte, fühlten sich die ersten Einheiten ein wenig zäh an. Aber Motivationsprobleme kenne ich nicht, die Erfolge im Frühjahr beflügeln mich vielmehr, noch einen Tick intensiver zu arbeiten. Schließlich habe ich noch viel vor, ich sage nur Tour de France und Weltmeisterschaft. Letztere findet im September im US-amerikanischen Richmond auf einem Kurs statt, der mir liegt. Doch fangen wir mit der großen Schleife durch Frankreich an. Mit der habe ich noch eine Rechnung offen, denn im Gegensatz zum Giro d'Italia und der Vuelta ist mir bei der Tour noch kein Etappensieg gelungen. Somit stehe ich also mitten in der Vorbereitung auf meine zweite Saisonhälfte - und sie läuft bislang richtig gut.

Besondere Erinnerungen in Nürnberg

"Spezielles Gefühl in Nürnberg": John Degenkolb war hier schon als kleiner Junge dabei.

"Spezielles Gefühl in Nürnberg": John Degenkolb war hier schon als kleiner Junge dabei. imago

Mit der Bayern-Rundfahrt, bei der mir zwei Siege gelungen sind, hatte ich in der Heimat einen super Auftakt. Vor allem über den auf der Schlussetappe von Haßfurt nach Nürnberg mit dem abschließenden Rundkurs um die Burg habe ich mich besonders gefreut. Mehr noch, ich war richtiggehend stolz auf ihn. Dazu muss man wissen, dass ich zwar in Thüringen geboren wurde und dort auch als Radsportler ausgebildet wurde, aber meine Kindheit in der Nähe von Nürnberg verbracht habe. Genauer in dem kleinen mittelfränkischen 900-Seelen-Dorf Ettenstatt. Deswegen kamen auch besondere Erinnerungen auf, als ich zum Finale der Etappe zehn Mal die Nürnberg Altstadt umrundete – genau auf diesem Kurs war ich schon als kleiner Junge unterwegs gewesen. So war es auch ein ganz spezielles Gefühl, dass ich den Zielsprint auf der Gerade vor dem Opernhaus für mich entscheiden konnte. Der Ärger, dass ich zwei Tage zuvor einen möglichen Etappensieg fast schon durch einen Anfängerfehler verpasst habe, war in diesem Moment natürlich verflogen. Insgesamt hat die Bayern-Rundfahrt mir gezeigt, dass ich auf einem guten Weg bin. Ich bin sehr zuversichtlich, Anfang Juli in Top-Form bei der Tour an den Start zu gehen."

Aufgezeichnet von Chris Biechele