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Die Seleçao hat keine Wahl

WM-Gastgeber Brasilien im WM-Check

Die Seleçao hat keine Wahl

Breit für die "Mission Hexacampeao": David Luiz will mit der Selecao im Maracana den sechsten Titel holen.

Breit für die "Mission Hexacampeao": David Luiz will mit der Selecao im Maracana den sechsten Titel holen. Getty Images

Das "Maracanazo", als Brasilien im Maracana vor 200.000 Zuschauern gegen Uruguay vor 63 Jahren den WM-Titel verspielte, ist ein nach wie vor lebendiges Trauma, doch schöpft die Mannschaft von Trainer Felipe Scolari genau aus diesem sportlichen Schicksalsschlag einen wesentlichen Teil ihrer Motivation. Mit dem "Unternehmen Hexacampeao", dem sechsten Triumph, soll diese tief im brasilianischen Fußball-Bewusstsein verankerte Schmach getilgt werden. Endgültig.

Der Heimvorteil

Die besondere Gastgeber-Rolle, die schon sechs Gastgeber zum späteren Triumph nutzten, ist seit dem von den Brasilianern gewonnen Confederations Cup im Juni/Juli 2013 ein positiver Faktor für die Selecao. Vom Auftaktsieg gegen Japan, dem 2:0 im Duell mit dem damaligen und kommenden Gruppengegner Mexiko, dem rauschhaften 4:2 über Italien, dem hauchdünnen 2:1 im Halbfinale gegen Uruguay bis zum 3:0-Finalerfolg gegen den amtierenden Weltmeister Spanien bekam die Mannschaft um ihren Superstar Neymar ein Gefühl davon, was es bedeutet, von einem frenetischen und stolzen Publikum getragen zu werden. Auch wenn die Statistik Böses ahnen lässt - noch nie gewann ein Confed-Cup-Sieger im Jahr darauf die WM -, so war dieser Probelauf für die Selecao und ihre Fans ein wahres Aha-Erlebnis. Ein Erlebnis, das die Brasilianer zum Top-Favoriten macht.

Weltmeisterschaft - Vorrunde, 1. Spieltag
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Brasilien - Vereinsdaten
Brasilien

Gründungsdatum

01.01.1914

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Die Stärken

Brasiliens Mannschaft kann trotz der fast ausnahmslos in Europa spielenden Profis durch einen sehr emotionalen Hurra-Fußball bestechen. Kommt diese Auswahl ins Rollen, ist jeder Gegner aufs Maximalste gefordert. In der eigenen Abwehrreihe stehen mit Thiago Silva (Paris St. Germain) und David Luiz (FC Chelsea) zwei absolute Topleute, der Münchner Dante wäre zu beiden das Back-Up, doch kann es durchaus sein, dass sich der Triplesieger dauerhaft in der Zuschauerrolle wiederfindet. Vor der Abwehr lässt Scolari stets zwei Sechser spielen, die das Herzstück im System des erfahrenen Coaches bilden.

Zum Beispiel mit dem Wolfsburger Luiz Gustavo und Paulinho (Tottenham). Letzterer war die Entdeckung beim Confed Cup – dynamisch, technisch versiert, schussstark und strategisch veranlagt. Seine Pässe sollen die Offensivwirbler um Neymar erreichen. Der Wirbelwind vom FC Barcelona, Oscar vom FC Chelsea, der bullige Hulk (Zenit St. Petersburg), der leichtfüßige Bernard (Donezk, im Sommer auch vom BVB umworben) oder auch ein knapp 30-jähriger "Altmeister" Robinho (Milan) agieren in der Offensive flexibel und sind aufgrund ihrer technischen Raffinesse und ihres Tempos kaum zu fassen. Im 4-2-3-1-System bildete zuletzt Fred die vorderste Spitze - auch er überraschte beim Confed Cup mit seiner Kaltschnäuzigkeit.

Die Schwächen

Im Tor steht Julio Cesar. Der 34-Jährige überzeugte beim Confed Cup und versöhnte damit seine Landsleute für den Patzer beim Viertelfinal-Aus gegen die Niederlande bei der WM 2010. Bei seinem aktuellen Verein, dem Zweitligisten Queens Park Rangers, wird er nicht berücksichtigt, zudem brach er sich im Herbst den Finger.

Wir können dieses Turnier nicht spielen und denken, der zweite Platz wäre ausreichend.

Trainer Felipe Scolari

Eine sub-optimale Situation, zumal Scolari keine ernsthafte Alternative für diese Position hat. Die Stamm-Außenverteidiger mit Dani Alves (Barcelona) und Marcelo (Real Madrid) sind bedingungslose Anschieber und somit bei teils hektischen Ballverlusten defensiv sehr offen. Die mitunter sehr körperliche Spielweise beim Confed Cup – Stichwort taktisches Foul – ist dieser Anfälligkeit geschuldet. In der Offensive lastet fast alles auf Neymar und dessen Genialität. In den 19 Test- und Pflichtländerspielen, die die Selecao in den Jahren 2012 und 2013 rund um den Globus absolvierte, stand nur die Zauber-Maus aus Mogi das Cruzes (Sao Paulo) immer in der Startelf und erzielte mit zehn Toren auch die meisten Treffer. Gelingt es dem Gegner, die Kreise des 21-Jährigen einzugrenzen - was wahrlich schwierig ist - fehlt dem Spiel des WM-Gastgebers ein wesentlicher Impuls und Überraschungseffekt. Von der desaströsen Wirkung einer möglichen Verletzung ganz zu schweigen. Und zu guter Letzt: Was ist, wenn Freds Torriecher streikt? Auch hier fehlt Scolari der passende Ersatz, Atletico-Torjäger Diego Costa entschied sich leicht beleidigt gegen die Selecao und für die spanische Seleccion.

Die Gruppe

Auch wenn Trainer Scolari vor der "Wundertüte Mexico" warnt, "gegen die wir uns bei Turnieren in den vergangenen 20 Jahren immer schwer getan haben" – Kroatien und Volker Finkes Kameruner sind mehr als machbare Aufgaben, zumal im Eröffnungsspiel gegen die Kroaten deren bester Stürmer Mandzukic gesperrt ist. Mehr Kopfzerbrechen bereitet den Brasilianern, dass sie im oberen Tableau stehen - schon im Achtelfinale drohen die Niederlande oder Spanien, in der Runde der letzten Acht Uruguay, Italien oder England, im Halbfinale eventuell die deutsche Auswahl. Unter dem Strich also eine lockere Gruppe, aber ein steiniger Weg Richtung Rio.

Der Trainer

Mann klarer Worte, der es gerne "europäisch" mag: Brasiliens Coach Felipe Scolari, hier mit Marcelo.

Mann klarer Worte, der es gerne "europäisch" mag: Brasiliens Coach Felipe Scolari, hier mit Marcelo. Getty Images

Die maßgeblichen Personen im sportlichen Bereich verkörpern Erfahrung pur. Felipe Scolari ist der letzte Weltmeistertrainer der Brasilianer, der 65-Jährige triumphierte. Carlos Alberto Parreira wurde im November 2012 als Technischer Direktor installiert und ist nahe dran an der Mannschaft. Der 70-Jährige nahm bislang an sechs WM-Endrunden teil, wurde 1994 in den USA mit Brasilien Weltmeister. Scolari firmiert in der Branche als defensiv denkender Übungsleister, der bisweieln zu "europäisch" und damit zu diszipliniert, spielen lässt. Doch er die personelle Verjüngung und den taktischen Umbau hin zu einem zielstrebigeren, flexiblen Angriffsfußball erfolgreich fortgesetzt, den sein Vorgänger Mano Menezes nach der letzten WM einläutete.

Scolaris Auftreten, auch gegenüber der Presse, versprüht mitunter eine schroffe Wagenburgmentalität, seine Mannschaft schwört er bedingungslos auf den WM-Titel ein. "Die Spieler wissen, dass wir Weltmeister werden müssen. Wir können dieses Turnier nicht spielen und denken, der zweite Platz wäre ausreichend", sagte er kurz vor der Gruppen-Auslosung.

Stimmen & Stimmung

Mit der Zielvorgabe "Weltmeister" steht Scolari wahrlich nicht alleine da, etwa 200 Millionen Brasilianer erwarten von der Selecao den sechsten Stern auf dem legendären, kanariengelben Trikot. Bei der Trikot-Vorstellung sagte Scolari, das "wäre das einzige, was ihm nicht gefällt am neuen Dress". Der größte Fußballer, Pele, weigerte sich bei der Gruppenauslosung mitzuwirken. "Ich zog es vor, nicht zu ziehen, ich fühle mich nicht wohl dabei, Bälle zu ziehen, und plötzlich ist der Weg nicht günstig für Brasilien", sagte der dreimalige Weltmeister. Und auch die brasilianische Staatspräsidentin Dilma Roussef wurde bei der Auslosung am 6. Dezember nicht müde zu betonen, dass sie "den WM-Titel erwarte". Alles oder Nichts, es gibt keine andere Wahl.

Neymar und die Last der 200 Millionen