WM

In Russland unterwegs: Jörg Wolfrum - St. Petersburgs "Weiße Nächte": Traum in hellblau-rot-orange

Oh Messi, kommt in den Blumenladen in der Primorskaja

St. Petersburgs "Weiße Nächte": Traum in hellblau-rot-orange

Ein Traum in hellblau-rot-orange: St. Petersburg um 3.31 Uhr Ortszeit.

Ein Traum in hellblau-rot-orange: St. Petersburg um 3.31 Uhr Ortszeit.

In Russland unterwegs: Jörg Wolfrum

Um 23 Uhr Ortszeit sind bei dieser WM die Spiele zu Ende, dann verlässt man das Medienzentrum. Ist in St. Petersburg ein Spiel, wie heute Abend Nigeria gegen Argentinien zum Abschluss der Gruppe D, dann kommt man erst nachts um eins, vielleicht auch erst um zwei raus aus dem Stadion. Man kennt das, etwa aus Sotschi, bei Ronaldos 3:3 gegen Spanien. Da war es stockfinstere Nacht. Fast schon, als das Spiel begann.

Weltmeisterschaft - Vorrunde, 3. Spieltag
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Weltmeisterschaft - Tabelle - Gruppe D
Pl. Verein Punkte
1
Kroatien Kroatien
9
2
Argentinien Argentinien
4
3
Nigeria Nigeria
3

Hier in St. Petersburg, in der nördlichsten Millionenstadt der Welt wird es immer noch hell sein, wenn Messi heute Abend seinen Traum vom WM-Titel begraben muss. Oder im Anschluss an den Sieg erfreut ins Bett sinkt: Chance erhalten, die Hoffnung auf die Krönung der Karriere stirbt zuletzt. Vielleicht wird dann auch Messi nicht schlafen können oder gar nicht wollen.

Man könnte ihm den Tipp mit den Blumen geben. U-Bahn-Station Primorskaja. Gennadi verkauft dort Blumen, täglich. Weiß man, weil man da täglich Blumen kauft, nachts, wenn es taghell ist. Der Grund ist, siehe oben, die verschobene Wahrnehmung. Und Vera, unsere Vermieterin. Mit rüstiger Rentnerin täte man der Ingenieurin unrecht. Elegante Dame, Designer-Wohnung, im 13. Stock, Aberglaube und Zahlen-Hokuspokus sind ihr fremd.

Man guckt und guckt und guckt...

Jörg Wolfrum

Fast noch taghell: kicker-Redakteur Jörg Wolfrum um 23.07 Ortszeit in St. Petersburg.

Früher hat Vera U-Bahn-Stationen mitgebaut, heute kocht sie exzellent. Immer wenn man um Mitternacht aus dem Medienzentrum im Stadion "nach Hause" kommt, wartet ein Abendessen. Vielleicht sollte man "zu Hause" doch nicht in Anführungszeichen setzen. Man isst also Borscht, gedünstetes Gemüse, Salat, Reis und oder weißes Fleisch in diesen Weißen Nächten von St. Petersburg.

Und weil wir im 13. Stock sind, ist der Blick pures Panorama: rund einen Kilometer entfernt erhebt sich ist das WM-Stadion, daneben das neue Planetarium, die futuristische Brücke über die Newa-Bucht und das Lakhta Center, ein nadelartiger Mehrzweckturm, darin untergebracht: öffentliche Stellen, Freizeiteinrichtungen und, ja auch, die Zentrale von Gazprom. Seit 2018 ist der Turm mit 462 Metern das höchste Gebäude in Europa.

Man guckt auf all das, beim Abendessen um Mitternacht oder noch später. Und ja, es ist immer noch hell. Im besten Fall dämmert es ein bisschen. Und einem selbst dämmert es: was für ein Glück man doch hat, dies erleben zu dürfen. Man guckt und guckt und guckt in diesen hellblauen Himmel, der am Horizont übergeht in Rot und Orange und guckt einfach weiter und weiter.

Oh Messi, kommt in den Blumenladen in der Primorskaja

Blumenladen in der Primorskaja

Blumenladen in der Primorskaja.

Und dann geht man los. Weil man diese Weißen Nächte einatmen möchte. So war das schon einst in Buenos Aires. Nie sind diese Perlen von Städten schöner als nachts, wenn man sie für sich alleine hat. Aber St. Petersburg ist nachts hell, Buenos Aires dunkel. Ein paar Blocks nur in St. Petersburg unterwegs also, da sah man beim ersten Mal dieses Blumengeschäft. Wobei, auch das stimmt nicht so ganz. Insgesamt sind dort im Bereich der U-Bahnstation Primorskaja im Nordwesten von St. Petersburg gleich vier Blumengeschäfte. Unterschiedlich groß. Als wären es Matrjoschka, als könne man sie ineinander schachteln. Geht vermutlich sogar, kam nur noch keiner drauf. Würden ja die Blumen Schaden nehmen.

Als Dank für das Abendessen ein Blumensträußchen, das wäre doch eine Idee, so der Gedanke nach dem ersten Mahl. Vergangenen Donnerstag war das. Daraus wurde ein Ritual. Heimkommen. Gucken, was Vera gezaubert hat. Abendessen mit Blick auf den hellblau bis rot-orangenen Himmel. Gucken und träumen von der Unendlichkeit (nur Fußballspiele und Filme sind schließlich nach rund 90 Minuten vorbei). Und dann: Runter und Blumen kaufen.

Beim zweiten Mal guckte Gennadi überrascht, den Fremden erneut zu sehen, das war am Freitag. Am Samstag guckte er schon erfreut. Am Sonntag fing er an zu Reden. Verstanden haben wir uns zwar nicht wirklich - aber irgendwie auch wieder doch. Am Montag, gestern, gaben wir uns die Hand. Heute Abend werden wir wohl Messi erwähnen. Oh Leo, solltest du Ausscheiden, komm einfach vorbei, Metro Primorskaja. Atme mit uns den Duft von Rosen, Gerbera, Nelken, gucke mit uns gen Horizont und dein Schmerz, er wird vergehen. Inmitten eines Meeres aus Blumen.

"Gen Himmel gucken": Ronaldo als Alternative zu den "Weißen Nächten"?

Ein paar davon bekommt auch heute wieder Vera. Dann nochmal den Nachthimmel angucken, der praktisch taghell sein wird, bevor man doch ein paar Stunden schläft. Sich quasi in diesen Himmel träumt, den man zuvor bestaunt hat. Bald geht es nach Moskau, dann nach Sotschi, das dieser Tage auch was zu bieten hat: Ronaldo gegen Spanien, Kroos gegen Schweden, am Samstag Ronaldo gegen Uruguay. St. Petersburg aber hat die "Weißen Nächte", in Wahrheit ein Traum aus hellblau-rot-orange sind. Man wird sie vermissen. Aber es gibt ja Leute die sagen, Ronaldo gucken sei wie gen Himmel gucken.

kicker-Redakteur Jörg Wolfrum