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Es hat sich ausgefuchst: Wie Leicester abstürzte

Analyse vom Dezember 2016

Es hat sich ausgefuchst: Wie Leicester abstürzte

Einst Ballermann, jetzt nicht mal Verballermann: Jamie Vardy ist Sinnbild für Leicesters Krise.

Einst Ballermann, jetzt nicht mal Verballermann: Jamie Vardy ist Sinnbild für Leicesters Krise. imago

Der Mann, der neben Fernando Santos und Zinedine Zidane als Welttrainer 2016 nominiert ist, wählte harte Worte. "Wir lassen alles vermissen", sprach Claudio Ranieri am vergangenen Wochenende. "Letzte Saison lief alles gut, diese Saison läuft alles falsch." Gerade hatte seine Mannschaft, der amtierende Meister Leicester City, beim Schlusslicht Sunderland verdient mit 1:2 verloren und war auf Platz 16 abgerutscht, zwei Punkte über den Abstiegsrängen. "Wir sind im Abstiegskampf", stellte Ranieri fest.

Sieben Monate nach der ersten Meisterschaft seiner 132-jährigen Geschichte ist Leicester City wieder dort, wo es ein paar weitere Monate zuvor begonnen hatte, dieses fantastische Märchen zu schreiben : in den düsteren, modrigen Tiefen der Premier-League-Tabelle. Dass sich ein Jahr, in dem in der Tat "alles gut lief", nicht wiederholen lassen würde, war abzusehen - aber gleich harter Abstiegskampf? Wie konnte es so weit kommen?

Die Defensive: Das Schutzschild ist jetzt durchlässig

Nach anfänglicher Pizza-Bestechung hatte Ranieri seine Abwehr letzte Saison bald zum Prunkstück entwickelt, Robert Huth und Kollegen ließen an 38 Spieltagen nur 36 Gegentore zu (nur elf in der Rückrunde). Jetzt sind es nach 14 Partien schon 24, alles, was dieses Prunkstück so glänzen ließ, ist verblasst: Weil die Gegner Leicester jetzt häufiger den Ball überlassen, ist die Konteranfälligkeit gestiegen, die zusammengerechnet 64-jährige Innenverteidigung Wes Morgan/Huth stößt da an Grenzen. Auch Standardsituationen sind ein vielversprechendes Mittel gegen Leicester geworden. Doch schlimmer ist das, was im Mittelfeld passiert ist.

2015/16 verzeichneten die Füchse durchschnittlich 23 Tacklings und 22 abgefangene Bälle pro Spiel, jetzt sind es noch 14 bzw. 15. "Man hat jetzt mehr Freiheiten im Mittelfeld, wenn man gegen sie spielt", hat Watford-Stürmer Troy Deeney bemerkt. Dass Tackling-Titan N'golo Kanté (Deeney: "Er hat immer die Arbeit für zwei gemacht") jetzt bei Chelsea staubsaugt, hat Leicesters Spiel jegliche Balance genommen. Viel zu leicht und ungestört finden Gegner den Weg Richtung Viererkette, das Schutzschild ist jetzt durchlässig. Und wer weniger Bälle abfängt, schadet auch seinem Spiel nach vorn.

Die Offensive: Wo ist Vardy?

Anders als Kanté widerstand Jamie Vardy im Sommer den Weglockangeboten , und trotzdem fragen sich jetzt viele in Leicester, wo ihr Torjäger geblieben ist: Vor einem Jahr hatte er gerade in elf aufeinanderfolgenden Ligaspielen getroffen (am Ende 24 Tore), jetzt wartet er wettbewerbsübergreifend seit 16 Partien auf einen Treffer. In den letzten zehn Premier-League-Spielen gelang ihm kein einziger Schuss aufs Tor. Aus dem Ballermann ist also nicht einmal ein Verballermann geworden, er kommt schlicht nicht mehr zum Abschluss. Was ist passiert?

Sicher ist, dass sich die Kontrahenten jetzt viel besser auf Vardys Fußball eingestellt haben, Raum für seine Tiefenläufe findet er kaum noch. Und dass sein Zuarbeiter Riyad Mahrez ebenfalls seine Form sucht und Vardy mit seinen Zuspielen kaum noch findet, hilft natürlich auch nicht weiter. Das Selbstvertrauen, das Leicester durch die vorige Saison trug, hat gelitten - das macht sich vor allem in der Offensive bemerkbar.

Die Transferpolitik: Mehr Spieler, aber nicht mehr Repertoire

Hat es Ranieri verpasst, das Repertoire zu erweitern? Über 70 Millionen Euro gab der Meister im sommerlichen Transferfenster aus, die Neuzugänge sind aber entweder verletzt (Mendy), noch nicht an den englischen Fußball gewöhnt (Musa, Kapustka, Hernandez) oder werden zu oft alleingelassen (Zieler); lediglich Stürmer Slimani (fünf Tore in elf Pflichtspielen) brauchte keine Anlaufzeit. Mahrez, argumentiert Ranieri, habe auch erst im zweiten Jahr eingeschlagen, "ich bin zufrieden mit den Verpflichtungen". Dennoch dienten sie wohl eher dazu, das bisherige System mit personeller Breite auszustatten, anstatt es auch für die neuen spielerischen Herausforderungen zu rüsten. Winterneuzugänge sind wahrscheinlich.

Die Doppelbelastung: Die Champions ist die neue Premier League

"Wenn ein Klub wie Leicester erstmals europäisch spielt, ist klar, dass er etwas einbüßt", sagte Ranieri schon vor zwei Monaten und sieht sich Woche für Woche bestätigt. Der Klub, der sich vorige Saison sogar aus den nationalen Pokalwettbewerben früh verabschiedet hatte, kommt jetzt im Drei-Tage-Rhythmus aus dem Takt, auch mental. Ranieri, wahrlich kein Freund der Wechselspiele, ist plötzlich zur Rotation gezwungen, was weder ihm noch den Spielern zu behagen scheint. Die Champions ist für Leicester die neue Premier League: Außenseiterrolle, volle Fokussierung - es ist alles da und fühlt sich so schön nach 2015/16 an. Die (machbare) Gruppe mit Porto, Kopenhagen und Brügge schlossen die Füchse als Erster ab. Nur litt die Liga darunter sehr.

Das Fazit

War die Saisonvorbereitung als Meister weniger intensiv? Die Liga weniger interessant, weil sich ein solches Märchen ja eh nicht reproduzieren lässt? Macht jeder ein paar Schritte weniger? Oder sich noch Gedanken über ausgeschlagene Offerten im Sommer (Vardy, Mahrez)? "Weiche" Faktoren wie diese lassen sich von außen schwer beurteilen, Ranieri beklagt auch jetzt fehlendes Glück. Die harten Fakten aber - Balanceprobleme, Ausrechenbarkeit, Defensivschwäche - sprechen dafür, dass es eine sehr schwere Saison für den Meister werden wird.

Am Samstag (18.30 Uhr, LIVE! bei kicker.de) trifft Leicester auf Manchester City. Beim letzten Duell, dem furiosen 3:1 im Etihad Stadium samt Huth-Doppelpack im Februar, dämmerte plötzlich allen, dass diese Mannschaft wirklich Meister werden kann. Vor dem Wiedersehen ist dagegen Zeit für ein paar Durchhalteparolen: "Ruhig bleiben, positiv bleiben, an die Spieler glauben" will Ranieri jetzt. Er hat diesen Klub schon einmal aus dem Keller geholt. Dort, wo alles begann.

Jörn Petersen

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