Bundesliga

Der kicker zu Gast im "Kölner Keller": "Was haben wir für die Hand? Die 12, die Reverse"

Videobeweis-Reportage mit spannenden Einblicken und außergewöhnlichen Aussagen

"Was haben wir für die Hand? Die 12, die Reverse"

Video-Assistenten im Einsatz: Günter Perl (li.) und Patrick Alt im "Kölner Keller".

Video-Assistenten im Einsatz: Günter Perl (li.) und Patrick Alt im "Kölner Keller". picture alliance

Die Vorbereitung ist zeitlich sehr großzügig angelegt. Schon am Vortag sind Günter Perl, der in Pullach im Isartal lebt, und Patrick Alt, wohnhaft im zwischen Pforzheim und Ludwigsburg gelegenen IIlingen, angereist und haben in Köln übernachtet. Dort treffen sie am Sonntag kurz nach elf Uhr am Parkplatz vor dem Video-Assist-Center (VAC, so die offizielle Bezeichnung) ein. Ihr offizieller Einsatz beginnt über zwei Stunden später. Perl ist Video-Assistent beim Spiel Bayer Leverkusen gegen Werder Bremen, Alt Assistent des VA. Die beiden ziehen sich um - es ist üblich, in einem offiziellen Schiedsrichter-Shirt vor den Bildschirmen zu sitzen, um den Ernst der Aufgabe zu dokumentieren - und beziehen sehr frühzeitig ihre Arbeitsplätze.

Aus lichtschutztechnischen Gründen im Souterrain

Diese sind im sogenannten Kölner Keller untergebracht. Vor drei Jahren fand die Testphase des Videobeweises noch im zweiten Stock desselben Gebäudes statt. In erster Linie aus lichtschutztechnischen Gründen zogen Mensch und Technik in das Souterrain um. Dort sind in einem großen, fensterlosen Raum sechs Stationen eingerichtet, an denen jeweils der VA, sein Assistent, ein Operator und dessen Co. ihren Dienst verrichten können. Dazu kommen zwei Bereiche für je einen Supervisor, der im Hintergrund vor einem Großbildschirm die Spiele überwacht und anschließend eine Manöverkritik mit den Beteiligten abhält. Für die Partie in Leverkusen ist es Eugen Strigel, Mitglied der DFB-Schiedsrichterkommission Elite.

Bis zu 23 Perspektiven sind verfügbar

Perl und Alt sprechen sich bis zum Anpfiff mit den beiden Operatoren ab, mit denen sie schon mehrmals zusammengearbeitet haben. Sie kontrollieren, ob die kalibrierten Linien, die vor jeder Bundesligapartie neu eingerichtet werden, einwandfrei funktionieren und testen, ob die Funkverbindung zu Schiedsrichter Deniz Aytekin und seinem Team im Stadion einwandfrei steht. Der VA und sein Assistent sitzen vor zwei großen Monitoren, die Bilder aus einer Totalen zeigen, und einem weiteren, dem sogenannten Vierer-Split, der gleichzeitig vier andere Kameraeinstellungen mit dreisekündiger Verzögerung zeigt. Die beiden Operatoren sitzen vor einem gemeinsamen großen Schirm und zwei weiteren, die kleinteilig insgesamt die Bilder aller beim jeweiligen Spiel zum Einsatz kommenden Kameras zeigen. In diesem Fall sind es 19, bei Spitzenspielen sind bis zu 23 Perspektiven verfügbar.

"Hier Deutz 1. Ist alles klar?"

Unmittelbar vor dem Anpfiff meldet sich Perl noch einmal bei Aytekin: "Hier Deutz 1. Ist alles klar?" Deutz 1 ist der offizielle Funk-Name des VA, sein Assistent spricht als Deutz 2. Deutz heißt der Kölner Stadtteil, in dem das VAC beheimatet ist. Der Unparteiische antwortet: "Hallo Deutz 1. Die Verständigung ist gut." Dann berichtet Aytekin noch leicht amüsiert, dass sein Einlaufkind an diesem Tag seinen Geburtstag feiert.

Spannende Einblicke in den "Kölner Keller"

Es ist bis zum Abpfiff das letzte locker-flockige Wort, das zwischen Leverkusen und Köln gewechselt wird. Die Stimmung im Keller ist höchst konzentriert, fast angespannt. Perl und Alt verfolgen das Spiel auf den verschiedenen Monitoren. Sie müssen sich bei Bedarf in den Funkverkehr des Schiedsrichterteams einschalten, hören aber die Kommunikation zwischen Aytekin und seinen Assistenten an den Seitenlinien, Christian Dietz und Eduard Beitinger, automatisch mit. Dem vierten Offiziellen Christian Leicher geht es wie Perl: Er hört passiv immer mit, muss aber aktiv werden, wenn die anderen ihn vernehmen sollen.

"Tor korrekt"

Da es kaum strittige Szenen gibt, hat der Video-Assistent zunächst keinen Grund einzuschreiten. "Check Abseits wenn Tor", ruft Alt das eine oder andere Mal Perl und den Operatoren zu, um diese zu sensibilisieren. Das heißt: Ein Angreifer bewegt sich knapp an der Grenze, und Aytekins Team lässt weiterspielen. Fiele nun ein Treffer, würde im Nachhinein bei Bedarf mit Hilfe der kalibrierten Linie festgestellt, ob sich zuvor ein Spieler im Abseits befunden hat. Doch dies passiert nicht. Und so dauert es bis zur 13. Spielminute, bis Perl erstmals seinen Verbindungsknopf drückt und die rote Kontrollleuchte neben dem Monitor anzeigt, dass sich der Video-Assistent in die Kommunikation des Teams im Stadion eingeschaltet hat. Max Kruse hat gerade das 1:0 für Werder erzielt. Jeder Treffer wird in Köln automatisch überprüft. Doch schnell ist zu erkennen, dass es keinerlei Anzeichen für ein strafbares Verhalten gibt. So braucht Perl keine besondere Kameraeinspielung, um Aytekin knapp mitzuteilen: "Tor korrekt."

Nachbetrachtung: Videoassistent Günter Perl im Gespräch mit kicker-Redakteur Thomas Roth.

Nachbetrachtung: Videoassistent Günter Perl im Gespräch mit kicker-Redakteur Thomas Roth. picture alliance

Auch eine knappe Viertelstunde später geht es in Köln eigentlich nur darum, die Entscheidung von Leverkusen zu bestätigen. Vor dem 2:0 durch Milot Rashica kommt aber auch noch eine Gelbe Karte für den Leverkusener Lars Bender dazu. "Tor korrekt" und "Bestätigt! Gelbe Karte Nummer 8", meldet Perl nach einem kurzen Studium der Bilder an Aytekin. Warum er sich auch die Verwarnung anschaut, schließlich sollen doch nur Rote und keine Gelben Karten gecheckt werden? "Es geht nicht um die Schwere der Strafe, also die Farbe der Karte", erklärt Dr. Jochen Drees, Projektleiter des Bereichs Video-Assistent beim DFB, "sondern darum, ob eventuell eine Spielerverwechslung vorgelegenen hat." Dies ist einer von vier Fällen, in denen der Video-Assistent eingreifen kann. Allerdings tritt ein solcher Irrtum höchst selten auf, seit Einführung des Videobeweises zur Bundesliga-Saison 2017/18 war dies nur einmal der Fall.

Aytekin: "Keine Hände, Jungs"

Nach dem Anschlusstreffer von Leon Bailey erfährt die Partie neue Dynamik. Bayer drängt auf den Ausgleich und bekommt mehrere Freistöße in aussichtsreichen Positionen. Aytekin warnt die Bremer Spieler vor: "Keine Hände, Jungs." Perl wappnet sich und instruiert seinen Operator: "Was haben wir für die Hand? Die 12, die Reverse." Mit beiden Begriffen ist dieselbe Kamera gemeint, die er sich vor der Ausführung auf seinen Monitor mit dem Vierer-Split schicken lässt. Die 12, auch Reverse genannt, ist auf der Gegengeraden etwa auf Höhe der dem Feld zugewandten Strafraumgrenze postiert. Der Video-Assistent hat mit ihr den Schützen und die Mauer gleichzeitig gut im Blick.

Bei Standardsituationen ist es üblich, sich spezielle Kameraeinstellungen geben zu lassen. Bei Eckbällen zum Beispiel werden gerne die 15 oder 16, die auf beiden Seiten auf Höhe der jeweiligen Torauslinie installiert sind, genommen. Schiedsrichter, seine Assistenten an der Seitenlinie, der VA und dessen Assistent teilen sich im Vorfeld der Standardausführung via Headset-Kommunikation gerne bestimmte Bereiche zur Überwachung zu, denn bei der Menge der zu erwartenden Rangeleien ist keiner in der Lage, einen generellen Überblick zu haben.

Aber auch bei brenzligen Situationen ist Aytekin auf der Höhe des Geschehens, eine Korrektur seiner Entscheidungen muss Perl kein einziges Mal vorschlagen. So bleibt es bei der Routine-Überprüfung des 1:3, die auch schnell erledigt ist. Beitinger wertet an der Linie: "Das Tor, das war sauber." Perl schaut kurz über die Bilder, schaltet sich per Knopfdruck in die Kommunikation auf dem Platz ein und bestätigt, erneut kurz und präzise: "Tor korrekt, Deniz."

Der Job im Keller ist kein Zuckerschlecken

Dann erfolgt nach einigen internen Verhandlungen über die Nachspielzeit - drei, vier und fünf Minuten sind in der Diskussion, am Ende werden es fünf - der Abpfiff. Aytekin ärgert sich ein wenig über maulende Leverkusener, aber insgesamt bleibt alles im Rahmen. Perl und Alt nehmen in Köln ihre Kopfhörer ab, es ist ihnen deutlich anzusehen, dass die Anspannung abfällt. Obwohl dieses Spiel für die Video-Assistenten wenig Arbeit bereithielt, mussten sie doch über gut 90 Minuten "höggschde Konzentration", wie Jogi Löw sagen würde, aufbringen. Der Job im Keller ist kein Zuckerschlecken, er erfordert vollen mentalen Einsatz. Perls Bilanz: "Wir hatten wenig zu tun. Der Spielverlauf war perfekt, und Deniz hat eine exzellente Leistung abgeliefert. Davon unabhängig wird man in Zukunft nicht am Video-Assistenten vorbeikommen. Man kann die technische Entwicklung auch im Fußball nicht ignorieren."

Thomas Roth