Champions League

BVB-Gegner Tottenham im Porträt: Eine klassische Wenn-Wenn-Situation

Dortmunds Gegner im Porträt

Tottenham 2019 - eine klassische Wenn-Wenn-Situation

Im Kommen - seit Jahren: Doch die Ungeduld rund um die Spurs wächst.

Im Kommen - seit Jahren: Doch die Ungeduld rund um die Spurs wächst. picture alliance

Es geht in Richtung "Vizekusen", was über die Tottenham Hotspur gesagt wird. Als "nearly club" bezeichnete sie ein TV-Experte erst vor wenigen Wochen wieder, als "Beinahe-", als lediglich "Nah-dran-Klub" also, der schon mal ein Pokal-Halbfinale erreicht oder Premier-League-Zweiter wird, aber eben doch seit bald elf Jahren ohne Titel ist. Und fürwahr: Nah dran scheint dieser Klub wirklich zu sein, ein Versprechen, das seit Jahren größer und größer wird. Doch wird es jemals eingelöst?

Die Ungeduld wächst, und das muss man sich mal vorstellen: Als er 2014 an der White Hart Lane anfing, erzählte Trainer Mauricio Pochettino einmal, habe Klubbesitzer Daniel Levy die Vision gehabt, Tottenham, das in den 50 Jahren zuvor nur zweimal in der Königsklasse vertreten war, binnen fünf Jahren zu einem Top-Vier-Anwärter zu machen. Seitdem wurden die Spurs Fünfter, Dritter, Zweiter, Dritter, liegen aktuell nur fünf Punkte hinter Liverpool und Manchester City (ein Spiel mehr) und dürften auch im Champions-League-Achtelfinale gegen Borussia Dortmund kaum chancenlos sein. Sie spielen attraktiven Fußball und bildeten nebenbei die halbe englische Nationalmannschaft aus.

Wir kennen die Realität. Aber wir können nicht erwarten, dass die Leute in der gleichen leben.

Trainer Mauricio Pochettino

Pochettino hat es geschafft, die Erwartungen so weit zu übertreffen, dass es ihm mancher übelnehmen würde, sollte er die, die er damit geschürt hat, nicht auch noch erfüllen. "Wir kennen die Realität", sagt der 46-jährige Argentinier, "aber wir können nicht erwarten, dass die Leute in der gleichen leben und genauso viel darüber wissen, was innerhalb des Klubs passiert." Und dort passiert gerade eine ganze Menge.

Die Transferbilanz unter Pochettino ist nicht der einzige unwirkliche Wert

Obwohl die WM in Russland weltweit keinen Kader derart strapaziert hatte wie den der Spurs, verzichteten sie als erste Mannschaft in der Premier-League-Geschichte auf jegliche Sommer-Transfers und rüsteten im Januar auch nicht nach, als Harry Kane und Dele Alli ausfielen und Heung-Min Son nach WM und Asienspielen nun auch noch den Asien-Cup zu spielen hatte. In Pochettinos Amtszeit haben sie nur 40 Millionen Euro mehr für Spieler ausgegeben als eingenommen - es ist nicht der einzige schier unwirkliche Wert für einen Champions-League-Dauergast aus England.

Der aktuelle UEFA-Finanzreport etwa belegt, dass Tottenham im Finanzjahr 2017 mit 148 Millionen Euro nur neun Millionen Euro mehr für Gehälter gezahlt hat als der VfL Wolfsburg, weniger als Inter Mailand oder der BVB, rund 100 Millionen Euro weniger als Liverpool oder Chelsea und fast 200 weniger als ManCity. Augenfälliger noch: Bei den Spurs flossen nur 41 Prozent der Gesamteinnahmen in Gehälter, beim AS Rom waren es zum Vergleich 83.

Das neue Stadion ist immer noch nicht fertig - ihm wird alles untergeordnet

Und alles hängt mit dieser unsäglichen Baustelle zusammen, die Millionen verschlungen hat und immer noch verschlingt, weil sie einfach nicht fertig werden will und vielleicht in dieser Saison auch nicht mehr fertig wird: Die neue - revolutionäre - White Hart Lane ist das Prunkstück dieses "Nah-dran-Klubs", das die Lücke zu den Arsenals und Chelseas endlich auch finanziell schließen und Tottenham auf ein ganz neues Level heben soll: auf eines der letzten, das noch fehlt, um ein Spitzenklub in Europa zu sein. Seit Pochettinos Ankunft ist dem neuen Stadion alles untergeordnet, die Finanz- und Kaderpolitik und, auch wenn es weh tut, sogar die Titelpolitik.

"Titel bringen dir nur was fürs Ego" , behauptete Pochettino, der als Trainer noch keine gewonnen hat, als seine Elf gerade binnen vier Tagen aus beiden Pokalwettbewerben geflogen war. "Das Wichtigste ist, konstant in der Champions League zu spielen, das hilft dem Klub, den letzten Schritt zu schaffen." Alles für die "Wenger-Trophäe"? Der folgende Gegenwind war orkanartig, dabei hat Pochettino die moderne Fußballwelt wohl schlichtweg verstanden, in der man lieber den FA Cup verspielt als den vierten Platz. (Wie sehr plötzlich fehlende Champions-League-Einnahmen die Möglichkeiten auf dem Transfermarkt schmälern, lässt sich drüben bei Arsenal gerade wunderbar beobachten.)

Wir schaffen gerade ein Vermächtnis. Ich sehe eine Zukunft, in der Tottenham Titel gewinnt.

Mauricio Pochettino

Nur wird man so das "nearly club"-Image eben auch nicht los und muss vertrösten, was das Zeug hält: "Wir sind auf dem richtigen Weg, weil wir uns jede Saison verbessern", formulierte Kapitän Hugo Lloris gerade im "Guardian" das Tottenham-Mantra. "Ich wünsche mir, dass wir für all diese Mühen belohnt werden - vielleicht nicht in dieser Saison, vielleicht in der nächsten, vielleicht in der übernächsten."

Wenn das Stadion erst mal bezugsfertig ist! Wenn die Millionen erst wieder in die Mannschaft gesteckt werden können! Tottenham 2019 - es ist die klassische Wenn-Wenn-Situation. Nur etwas Geduld noch, bitte. "Wir schaffen gerade ein Vermächtnis", sagt Pochettino. "Ich sehe eine Zukunft, in der Tottenham Titel gewinnt."

Wird Pochettino wirklich einen anderen ernten lassen, was er gesät hat?

Doch wird er dann überhaupt noch da sein? Pochettino, so betont er selbst, versteht den Fußball in "Kapiteln, Perioden, Projekten". Und das aktuelle, sein Projekt, über das Lloris sagt, "entweder du magst es oder nicht", ist noch nicht abgeschlossen. Die Angst wächst, dass er es im Sommer trotzdem verlässt. Auch wenn er im vorigen Mai bis 2023 verlängerte, sich offiziell wünscht, "20 Jahre zu bleiben", und sich niemand so recht vorstellen kann, dass er alles, was er gesät hat, nicht auch ernten will: Die Gerüchte über einen Abschied Richtung Manchester United oder Real Madrid hat er nie dementiert.

Dabei wird auch ihm klar sein: Sollte er jetzt gehen, wäre er vielleicht wieder nur nah dran gewesen.

Jörn Petersen

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