kicker

ELF MAL GAR NICHTS!

Das Debakel und die Folgen

ELF MAL GAR NICHTS!

Am Ende war nur Fassungslosigkeit. Weniger bei denen auf dem Rasen, von denen allein Oliver Kahn aussprach, was offensichtlich die wenigsten seiner Mitspieler empfanden: "Es war eine Schande, was wir für Deutschland geleistet haben." 0:3 gegen Portugal. Gegen deren Reserve im "Spiel der letzten Hoffnung". Aus und vorbei schon nach der Vorrunde!

Während die tapferen und von etlichen deutschen Spielern nach dem ersten Gruppenspiel noch als schwächster Gegner abqualifizierten Rumänen im eigenen Interesse mit dem 3:2-Sieg gegen England erfolgreich Schützenhilfe leisteten, wurde der schlappe und als Mannschaft völlig auseinander gefallene Europameister geradezu vorgeführt. "Peinlich!". Diese Vokabel benutzte Bundesinnenminister Otto Schily. "Demontage", so sagte Schalkes Manager Rudi Assauer. "Jämmerlichst" - so nennen wir den deutschen Gesamtbeitrag bei dieser EM. Der Trost: Es ist überstanden!

Für uns alle. Aber auch für Erich Ribbeck. Der zog am Mittwoch, was kaum überraschte, "die Konsequenz aus dem katastrophalen Abschneiden", so Ribbeck. Er beendete seine Tätigkeit als Teamchef, die vertraglich ohnehin nur bis zum EM-Ende terminiert war, mit sofortiger Wirkung. Nach geglückter Qualifikation sei der zweite Teil seiner Aufgabe, "misslungen, weil es mir nicht gelungen ist, aus Deutschlands besten Fußballern eine schlagkräftiges Mannschaft zu machen".

Was noch zu tun bleibt, ist die Analyse des deutschen EM-Zusammenbruchs. Für den kicker ergeben sich dabei elf gravierende Bruchstellen. Im Klartext:

ELF MAL GAR NICHTS!

1. Kein Können: Drei Spiele - ein Punkt, ein Tor. Deutschland war nach der Vorrunde nicht nur statistisch die schlechteste Mannschaft des Turniers. Sie ist es auch fußballerisch. Technisch und taktisch agieren die anderen Teams bei dieser EM in einer anderen Liga. Die Folgen der gravierenden Defizite im Umgang mit dem Ball: Die deutsche Nationalelf ist nicht in der Lage, ihr Spiel mit dem auf EM-Niveau notwendigen Tempo zu unterlegen, kann sich weder mit schnellem Kurzpassspiel befreien noch damit den Gegner unter Druck setzen. Zu statisch, zu langsam, zu durchsichtig.

2. Kein Charakter: Delegationsleiter Gerhard Mayer-Vorfelder brachte offen die Erklärung für "die schwarze Stunde" gegen Portugal auf den Punkt. "Diese Niederlage hat nichts mit Taktik zu tun, sondern mit Charakter!" Dies kann jeder bestätigen, der miterlebt hat, wie umständlich der sonst so eloquente Ribbeck formulierte, wenn er im Vorfeld des Portugal- Spiels nach dem Einsatzwillen seiner Spieler gefragt wurde. Der Teamchef erweckte dabei den Eindruck, als "Versuch, den Spielern klar zu machen, dass es noch mal um viel geht". Die bittere Erkenntnis: Neben dem Können fehlte auch das letzte bedingungslose Wollen.

3. Kein Trainer: Der Teamchef saß zwar während der Spiele auf der Bank und bei den Pressekonferenzen auf der Bühne. Doch hier wie dort hörten ihm immer weniger zu. Permanente taktische und personelle Experimente brachten keine griffigen Ergebnisse, so dass es bei Flickschusterei blieb. Ribbecks Autorität wurden dadurch nicht nur in der Öffentlichkeit sondern auch intern immer stärker in Frage gestellt.

4. Keine Mannschaft: Das fatalste Negativprodukt der immer neuen und anderen taktischen und personellen Konstellationen war die vergebliche Suche nach einem festen Gerüst. Als das Turnier begann, brachte Deutschland zwar elf Akteure auf das Spielfeld, aber kein Team! Das ist der schlimmste Vorwurf, den man Ribbeck machen muss. Mit dreimal, auch verletzungsbedingt, veränderter Anfangsaufstellung versuchte der Teamchef dieses entscheidende Manko während des Turniers zu beheben. Ohne Erfolg!

5. Keine Hierarchie: Klar, ohne Mannschaft keine Hierarchie. Wichtiger aber, ohne Hierarchie keine Mannschaft. Weder im Vorbereitungslager auf Mallorca noch beim Turnier selbst war ein Führungsspieler zu erkennen. Das Ergebnis: Während der drei EM- Spiele präsentierten sich die elf deutschen Spieler zumeist als konturen- und führungsloser Haufen.

6. Keine Taktik: Was immer Ribbeck als taktische Grundformation seinem Team verordnete, alles erwies sich als Makulatur. Ob mit einem spielenden Angreifer (Rink) und einem Brecher (Bierhoff) gegen Rumänien, ob mit einer Doppelspitze (Kirsten/Jancker) gegen England, oder mit einem Brecher (Jancker) und zwei "hängenden" Außenstürmern (Deisler/Bode) gegen Portugal - jede scheinbare Lösung entpuppte sich als Notlösung.

7. Keine Außenspieler: Ein ähnliches Besetzungs-Durcheinander wie im Angriff herrschte auf der rechten und, nach Zieges Verletzung, auch auf der linken Außenposition. Gegen Rumänien sollte, so war es zumindest in der Anfangsphase zu erkennen, Scholl über rechts stürmen. Nachdem der Münchner dort mehrfach übersehen worden war, orientierte er sich nach innen. Weder Häßler und schon gar nicht Babbel waren danach in der Lage, diese Lücke im vorderen Bereich zu schließen. Diese Aufgabe wurde gegen England Deisler übertragen, der seinen Job lange ordentlich erledigte. Gerade in dieser Situation zeigte sich, dass Ribbecks Absicht, alle Positionen doppelt zu besetzen, nicht realisiert war. In Abwesenheit von Neuville und Heinrich gab es im rechten Offensivbereich wie auf der linken Außenposition keine Alternativen.

8. Kein Abschluss: Nirgendwo schien das deutsche EM-Aufgebot so hochkarätig besetzt wie im Angriff mit dem Quartett Bierhoff, Kirsten, Jancker und Rink. Alle vier Stürmer kamen zwar zumindest einmal zum Einsatz. Ihre Effektivität war gleich null!

9. Keine Standards: Was hat der Europameister eigentlich während seiner "geheimen" Übungsstunden auf Mallorca und in Holland trainiert? 18 Eckbälle und mehr als ein Dutzend Freistöße im gegnerischen Spieldrittel bekam die deutsche Elf zugesprochen. Das Resultat: Kein Tor und kaum eine torgefährliche Strafraum-Situation.

10. Keine Fitness: Die Laktatwerte der Mannschaft insgesamt seien diesmal besser als sie es vor vier Jahren beim EM-Gewinn in England waren, erklärte Ribbeck auf Mallorca. Prof. Dr. Kindermann, der Mannschaftsinternist, wollte dies partout nicht bestätigen. Kein Wunder, müsste der renommierte Sportmediziner doch sonst den Rückschluss zulassen, dass die Laktat-Werte keine Auskunft über die körperliche Fitness geben. Tatsache ist, dass das deutsche Team, im Gegensatz zu 1996, diesmal nämlich in allen drei EM- Spielen gravierende körperliche Defizite erkennen ließ.

11. Kein Teamgeist: Vor vier Jahren symbolisierten Thomas Helmers dick bandagierte Knie den 12. Mann im deutschen Team. Diesmal spielte der Teamgeist nicht mit. Er wurde kaum gesucht, geschweige denn entdeckt.